Den Wahnsinn unserer Zeit vermessen: Hardboiled Wonderland am 8. Mai im Urania Theater

Sich selbst retten

»Hard Boiled Wonderland« zwischen Jazz, Hörspiel und Performance verzweifelt grandios über den Zustand der Welt

Eines ist bemerkenswert an der Verzweiflung: Sie potenziert sich, je bewusster man sich über sie wird. Und Gründe zu verzweifeln, gibt es heute viele. Das weiß Greta Thunberg, das wissen Eduard Snowden, Carola Rakete, Amanda Gorman, und das weiß auch Sebastian Gramss. Der zweifache Echo-Preisträger und Kontrabassist, bekannt für großangelegte Projekte wie etwa das »Human Robotic Project« für vier Musiker*innen und vier Roboter, hat ein neues Stück initiiert: »Hard Boiled Wonderland« heißt es, uraufgeführt im Februar 2020 im Stadtgarten und benannt nach dem gleichnamigen Roman von Haruki Murakami mit dem Untertitel »Das Ende der Welt«. Anfang Mai kam es im Urania Theater in Ehrenfeld erneut auf die Bühne.

Um nichts geringeres als den desaströsen Zustand der Menschheit geht es dabei, weil Gramss einfach nicht mehr bloß Musik machen wollte. Über Monate hat er Textfragmente gesammelt, angefangen mit dem Satz »Was hatte der denn nachts noch auf der Straße zu suchen?«, eine Aussage des Politikers Egon Wochartz aus dem Jahr 1999, nachdem ein Geflüchteter von Neonazis zu Tode gehetzt wurde. Oder »Going to be a great summer of cricket«, ein Tweed des australischen Premierministers Scott Morrison, zu einer Zeit als in Australien die Buschfeuer wüteten. »Hard Boiled Wonderland«, ein Projekt mit einem rund 15-köpfigen internationalen Musiker*innen-Ensemble auf der Bühne, oszillierend zwischen Jazz, Hörspiel und Performance, sei für ihn, sagt Gramss, der Versuch gewesen, nicht die Welt, ­sondern sich selbst zu retten. Ein Ventil zu schaffen, angesichts der ­Verzweiflung über diese menschlichen Niederungen und Entgleisungen.

Auf der Bühne werden all diese Textschnipsel von den Stimmen der drei Sprecher*innen vertont: mal auf Englisch, meistens aber auf Deutsch, mal gesprochen und manchmal gesungen. Es geht um die Klimakrise und Mikroplastik, um Fake News, Rassismus, Krieg — und eigene innere Widersprüche. Sollte am Ende die Selbstauslöschung, die »Autovaporisierung«, wie Sprecher Maximilian Hilbrand laut nachdenkt, die einzige Lösung sein? »Ein Fußabdruck weniger!« Aber mit der anschließenden Beisetzung beginnt schon das nächste Problem: Feuerbestattung, ein Sarg — alles schlecht für die Umwelt. »Hard Boiled Wonderland« kennt auch ironische Töne, verweigert aber jede Antwort auf die brennendste Frage: Was soll ich tun?

Statt dessen überschlägt sich an jenen Stellen der Ratlosigkeit das Musiker*innen-Ensemble. Sie spielen ihre Instrumente nicht, sie bearbeiten sie regelrecht: Der Saxofonist Leonhard Huhn krümmt sich auf seinem Stuhl, um das letzte Fitzelchen des ihm verbleibenden Atems in sein Instrument zu pressen, die metallenen Klangplatten eines Glockenspiel werden mit einem elektrischen Milchschäumer zum Klirren gebracht und Sebastian Gramss klopft seinen Kontrabass und schüttelt dann lange das dumpfe Klingen aus den Schalllöchern heraus. »Das Stück entwickelt sich mit jedem neuen Auftritt. Wir greifen aktuelle Ereignisse auf und komponieren manchmal sogar im Soundcheck noch etwas Neues dazu«, sagt Sebastian Gramss.

Eine der stärksten Stimmen an diesem Abend Anfang Mai ist dann auch die ukrainische Sängerin Tamara Lukasheva. Ihr Gesangsstück »Thank you Lord« ist eine langsam anschwellende Anklage, stellvertretend vorgetragen für all die Vergessenen dieser Welt. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht brüllt sie und verflucht die Mächtigen, »Go to hell. Or to jail.«, um dann auf ihrem Stuhl zusammen zu sacken, unendlich traurig wirkt das. Vielleicht ist alles, was jetzt noch hilft, bloß Empathie, denkt man, wenn man die Blicke sieht, die Sprecher Maximilian Hilbrand ihr in diesen Momenten zuwirft. Nichts Bemitleidendes liegt darin, nur Achtung vor dieser Verzweiflung und eine fast schon zärtliche Sorge. Kann das ein Weg sein? Nicht abstumpfen, durchlässig bleiben — aber wie machen wir von da aus weiter?

»Hard Boiled Wonderland« wurde in diesem Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet, genauer gesagt mit dem Sonderpreis der Jury. Es widme sich politischen Themen mit »so einer grandiosen Überzeugung, Hin­gabe und einem sichtlich schonungslosen Mut und Aufwand, dass dieser Preis eine logische Konsequenz ihres Schaffens ist«, heißt es in der Laudatio.

Tonträger: »Hardboild Wonderland: Music Resistance« ist erschienen auf Alive /Rent a Dog)