Form ist (fast) alles: Eric Pfeil, © Alfred Jansen

Auf Liederreise durch Italien

Eric Pfeil hat ein Buch über den italienischen Canzone geschrieben

Bücher aus Papier sind doch was Schönes. Ein klarer Nachteil ist allerdings, dass sie keine Links enthalten, auf die man einfach klicken kann, um zu weiterführendem Content zu gelangen. Diese Funktion wäre im Falle von Eric Pfeils musikalischem Wegweiser »Azzurro« äußerst hilfreich. Der Kölner Autor, der unter eigenem Namen und mit seiner Band Die Realität auch selbst als Musiker unterwegs ist, führt in seinem Buch anhand von 100 Songs durch die Geschichte der italienischen Popularmusik. Die MusikerInnen und InterpretInnen werden vorgestellt und in ihren historisch-kulturellen, gesellschaftlichen und ästhetischen Kontext eingebettet, der ausgewählte Song wird einer kurzen textlichen und musikalischen Analyse unterzogen, meist im Sinne der Rechtfertigung seiner Großartigkeit. Wie bei jedem Reiseführer kann der Text allerding nur die Trockenübung sein — man muss es schon mit eigenen Augen bzw. Ohren erleben! Im Falle von »Azzuro« ist also die parallele Nutzung von YouTube und Streaming-Dienst unumgänglich. Und hier beginnt das »Problem«: Hat man erst einmal Blut geleckt, und sich beispielsweise einen der von Pfeil ­gepriesenen Videoclips einverleibt, will man natürlich mehr wissen und droht, sich in den Weiten des Internets zu verlieren: So passiert es leicht, dass man innerhalb einer Stunde erst drei der in der Regel zwei- bis dreiseitigen Episoden geschafft hat.

Ist dies dem Autor vorzuwerfen? Natürlich nicht! »Azzurro« ist eben kein Buch, das man in einem Rutsch durchlesen sollte, sondern liefert Ausgangspunkte. Je tiefer man schürft, desto größer wird die Begeisterung für eine Musikkultur, die man als Deutscher aufgrund von Pizzeria-Besuchen und dem Gucken von Unterhaltungsshows in den 80er-Jahren zwar irgendwie zu kennen glaubt, die aber  in Wirklichkeit fein verästelt und an Reichhaltigkeit kaum zu überbieten ist.

Pfeil spannt den weiten Bogen von den Belcanto-Schmonzettensängern der 50er-Jahre  (Claudio Villa), über die ersten Italo-Rock’N’Roller (Fred Buscaglione, wenig später natürlich auch Adriano Celentano), den Start des »Festival della Canzone Italiana« — ­seines Zeichens Blockbuster der leichten italienischen Musik und Brutstätte aller Sommerhits —, der Etablierung der ersten weiblichen Superstars (Mina), den als cantautori bezeichneten Singer/Songwritern mit moralphilosophischer Sprachrohrfunktion (Lucio Dalla), bis hin zu halbwegs moderneren, von HipHop oder Indiepop geprägten KünsterInnen wie Jovanotti oder Carmen Consoli. Schön ist, dass der Autor um vermeintlichen Trash keinen Bogen macht, sondern auch der Italodisco Tribut zollt oder sich vor dem clownesken Brudergespann Oliver Onions verbeugt. Selbst über die Mainstream-Ikone Eros Ramazzotti wird nicht hergezogen, auch hier findet Pfeil mit »Se bastasse una canzone« ein Lied, das sich zum Schwärmen eignet. Überhaupt schreibt der Autor eher im Stile eines Fans als in dem eines Wissenschaftlers; trotz der hohen Faktendichte bleibt der Tonfall stets plauderhaft freundlich, sodass auch Menschen am Ball bleiben dürfen, die in ihrer Jugend ohne Spex-Abo klarkommen mussten. Als roter Faden angeboten hätten sich tiefere Einblicke in das Seelenleben des Autors, eine stärkere Verquickung der Musikgeschichte Italiens mit der persönlichen Geschichte Pfeils. Hier bleibt er aber ganz der abgeklärte Musikjournalist und bewegt sich somit auf sicherem Terrain.

Selbst über die Mainstream-Ikone Eros Ramazzotti wird nicht hergezogen

Ein Fazit, das man aus der Lek­türe von »Azzurro« ziehen kann, ist, wie stark Popularmusik in der Seele Italiens verwurzelt ist, welch eine thematische Vielfalt sie abdeckt und wieviel Raum sie  für exzentrische, vermeintlich abseitige Persönlichkeiten bietet. Gerade von Deutschland aus, wo muttersprachlicher Pop seit jeher eher als Dienstleistung verstanden wird und künstlerisch motivierte Ansätze lediglich in den Nischen stattfinden, mag man schon ein wenig neidvoll gen Süden blicken.

Zu ernst sollte man es mit dem Pop dann aber doch nicht nehmen — um nicht zu enden wie Luigi Tenco, der sich nach seiner gescheiterten Finalteilnahme in Sanremo 1967 das Leben nahm und in seinem Abschiedsbrief verkündete: »Ich tue dies nicht, weil ich des Lebens überdrüssig bin (im Gegenteil), sondern als Akt des Protests gegen ein Publikum, welches Lo, tu ele rose ins Finale wählt, und wegen einer Jury, welche La rivoluzione kürt. Ich hoffe, dass dadurch Einigen etwas klarer wird. Ciao. Luigi.«

Buch: Eric Pfeil, »Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien«, KiWi 2022, 368 Seiten, 14 Euro