Die Gemeinschaft ist wichtiger als das Individuum: Laiendarsteller aus Katalonien

Alcarràs von Carla Simón

Carla Simóns Berlinale-Gewinner zeigt das Ende traditioneller ­Landwirtschaft durch die Augen einer betroffenen Familie

 

Der Großvater strolcht nachts ­verloren zwischen den Pfirsichbäumen umher. Längst weiß er, dass deren Früchte ihre letzte ­Reife ­erleben. Es war einmal seine Plantage. Jetzt gehört sie seinem Sohn, aber der wird sie verkaufen. Ein Lebenswerk und vor allem eine Lebensart gehen vor die Hunde. Später werden tosende Bagger anrücken und die Wurzeln der Bäume aus der Erde reißen. Der Großvater ist still, aber sein Gesicht verströmt die Enttäuschung eines resignierenden Mannes.

Ganz so elegisch lassen sich die anderen Mitglieder der Obstbauernfamilie in Carla Simóns Berlina­le-Gewinner »Alcarràs« nicht gehen. Das erbarmungslos fortschreitende Leben lässt das gar nicht zu. Manche von ihnen gehen auf die Straße und werfen mit Obst auf Glas­fassa­den, in denen die sitzen, die keinen Sinn mehr sehen in der traditionel­len Landwirtschaft. ­Andere saufen sich den Frust von der Seele. Wieder andere trainieren für einen Tanzwettbewerb. Es wird gestritten, geweint und gesungen. Die Kinder verstehen noch nicht, dass ihr Spielplatz im Schatten der Obstbäume bald nicht mehr existiert. Wenn die Tochter hochge­hoben wird, um ihre ersten Pfirsiche zu pflücken, sehen wir einer Erinnerung im Entstehen zu. In die Schule sollen sie, moniert der Vater. Was wollen sie denn noch hier auf der Farm? Wie schon in ihrem ersten Spielfilm, »Summer 1993«, beobachtet die Filmemacherin die Welt ­bevorzugt durch die Augen von ­Kindern. Aus deren Blickwinkel wird nicht unterschieden zwischen großen und kleinen Ereignissen. Das Leben wankt und steht in jeder Sekunde in Frage. Es sind dennoch keine ungesehenen Bilder oder unbekannten Konflikte, die hier gezeigt werden, auch wenn sie aufrichtig gefilmt sind.

Simón entstammt selbst einem bäuerlichen Umfeld. Man spürt, dass sie den Alltag dieser Menschen kennt, die kleinen Handgriffe, die ein Leben ausmachen. Die traditionellen Rollenverteilun­gen zwischen Männern und Frauen betrachtet sie wie beiläufig. Sie klagt nicht an, aber schaut auch nicht weg. Dieser ungekünstelten Nähe entwächst die große Stärke des Films, denn die Filmemacherin muss nichts wirklich aussprechen, um es doch zu sagen. Das unterscheidet »Alcarràs« letztlich auch von den dutzenden ähnlichen, als Themenfilme reüssieren­den Arbeiten, die jedes Jahr die Leinwände mit inhaltlicher Relevanz und künstlerischer Leere überschwemmen. Es sind die subtilen Bewegungen, die kurzen ­Blicke und die Ellipsen zwischen den Handlungen, die offenbaren, wie sehr sich dieses scheinbar so gewöhnlich ablaufende Leben ­einer Familie inmitten eines existenzbedrohenden Sturms befindet.

Alle Mitglieder der Familie sind mit Laien aus der titelgebenden Gemeinde in Katalonien ­besetzt. Das ist nicht die einzige neorealistische Geste des Films, der sich für Enkel, Neffen, Frauen, Männer gleichermaßen interessiert und allen mit großer Empathie entgegentritt. Simón stellt den Humanismus an die erste Stelle all ihrer Entscheidungen. Dabei stehen jedoch weniger die Individuen als ihre Gemeinschaft vor der etwas aufdringlich beweglichen Kamera. Manchmal droht sich die soziale und politische Dringlichkeit in der Zärtlichkeit der Bilder zu verlieren. Eine gewisse Monotonie schleicht sich ein. Man mag sie als Unaufgeregtheit begrüßen, aber vieles löst sich derart in dahinplätschernde Gefälligkeit auf.

Seit Jahrzehnten haben Filmemacher das Ende der traditionellen Landwirtschaft dokumentiert und fiktionalisiert. Progressiv gewendet in sowjetischen Stummfilmen, melancholisch wie in Georges Rouqiers »Farrebique« (1946) oder mit magischen Anleihen wie bei Alice Rohrwacher (»Land der Wun­der«, »Glücklich wie Lazzaro«) in den letzten Jahren. Verlorengehende Traditionen, an die tatsächliche Existenzen gebunden sind, stehen im Zentrum dieser Filme, die auch viel mit den globalen ­Krisen und Diskussionen um Nachhaltigkeit zu tun haben. ­»Alcarràs« führt die landwirtschaft­liche Produktionsweise mit einer größeren Idee von Familie zusammen. Außerdem ist die Lage in Spanien besonders dramatisch. ­Innerhalb von zehn Jahren sind 300.000 Kleinbetriebe von der Landkarte verschwunden. Über 60 Prozent der Bauern sind heute ­älter als 55 Jahre. Sie werden auch vom ­industrialisierten biologischen Anbau abgelöst. Simóns Film ­entspringt dieser schwierigen Wirklichkeit. 

E/I 2022, R: Carla Simón, D: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset, 120 Min. Start: 11.8.