Anthony Braxton gestaltet Räume lebendiger und vernetzter Musik, Foto: Peter Gannushkin

Musik im mehrdimensionalen Raum

Als Altsaxofonist und Multiinstrumentalist, Komponist und Improviser ist Anthony Braxton auch Impuls­vernetzer und Theoretiker einer multidimensionalen Musik

Aus der Ferne betrachtet erscheint das musikalische Werk Anthony Braxtons als ein dicker, wild gewickelter Knäuel, ein undurchdringliches Gewimmel von Fäden: mehrere 100 Albumveröffentli­chun­gen in den verschiedensten Formaten von Saxofon solo bis zu Großensembles, mehr als 1.700 Kompositionen, tausende von »Composition Notes«, schriftlichen Kommentaren und Erklärungen zu den einzelnen Kompositionen, dazu eine ­Darlegung seiner mehrdimensionalen (musik-)ästhetischen Theorie, zahllose Mitschnitte in Ton und Bild, Lectures, Interviews. Viele der Fäden in diesem Knäuel weisen in Richtung Jazz, während andere die Farben der Improvisation tragen und wieder andere über den Graben zur westlichen Kunstmusik winken, streng strukturiert, fein ausgetüftelt und geheimnisvoll durchdacht.

Aus der Ferne wirkt das Ganze amorph und kaum zu überblicken. Um etwas zu erkennen, muss man näher heranrücken, muss einen Faden auswählen, daran ziehen — es wird sich schon etwas ergeben. In den letzten 15 oder 20 Jahren erscheint immer wieder ein Faden als »Diamond Curtain Wall« prominent an der Oberfläche dieses Knäuels, manchmal in das Gespinst eines größeren Ensembles eingewirkt, manchmal aus vier, zuletzt zumeist aus drei Phasen gesponnen. In der aktuellen Ausgabe seines Diamond Curtain

Wall Trios treten die Einwürfe und Störgeräusche der mit der Programmiersprache SuperCollider gefütterten künstlichen Intelligenz eines Computers an die ­Seite der Interaktion zwischen Braxton selbst, der portugiesischen ­Trompeterin Susana Santos Silva und dem Akkor­deonisten Adam ­Matlock.

Anthony Delano Braxton, geboren am 4. Juni 1945 auf der tiefschwarzen und von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gangs geprägten »South Side« von Chicago, war schon früh etwas anders. Während andere Jungs aus der Nachbarschaft sich den Gangs zuordneten und ihre Muskeln zeigten, hatte er nicht viel vorzuzeigen und interessierte sich sowieso mehr für Raketen, Technik, Science Fiction und für Problemstellungen auf dem Schachbrett. Als er schließlich auf eine High School in einem anderen Stadtteil wechselte und zum ersten Mal mit der Tatsache in Berührung kam, dass es auch Menschen mit heller Hautfarbe gibt, entwickelte er sich noch weiter zum Außenseiter.

Auch wenn sein Weg in die Musik zunächst unauffällig verlief, führte der immer wieder an Punkte, an denen er sich von seinem Umfeld absetzte. Zu Hause spielte seine Mutter Gospelsongs auf dem Klavier, im Radio lief R’n’B, und in der Kirche sang er im Chor. In der High School spielte er im Schulorchester und stieg bald zum Lead-Saxofonisten auf. Eines Abends hörte er im Fernsehen eine Aufnahme mit dem Pianisten Ahmad Jamal, einem Meister der sparsamen Phrasierung, und war  begeistert. Der junge Braxton wurde ein eingeschworener Melodiker, er mochte den weichen Ton von Miles Davis, die flüssige Linien­führung von Paul Desmond, den vertrackten Rhythmus von Brubecks »Blue Rondo à la Turk«. Offenbar zogen ihn Facetten der Musik an, die jenseits des Mainstreams in seinem sozialen Umfeld lagen.


Während sich die ­anderen Jungs den Gangs zu­­ordneten, interessierte sich ­Braxton für Raketen, ­Science ­Fiction und Problemstellungen auf dem Schachbrett

Später auf dem Junior-College hörte Braxton den fünf Jahre älteren Ros­coe Mitchell — und war umgehauen: »Ich war ein Student und das waren Musiker«, berichtete er später. Aber diese Begegnung nährte seine Entschlossenheit: Er heuerte bei einer Elite-Kapelle der Army an und stieß während seiner Stationierung in Korea auf eine Schallplatte mit einem Gemälde von Kandinsky als Cover. Das fand er spannend, auch die Musik, Klavierstücke von Arnold Schönberg, lenkte seinen Forscher­drang in eine neue Richtung. Das Interesse für den Avantgardeflügel der euro­päischen Kunstmusik blieb daraufhin ein wichtiger Pol seiner musikalischen Orientierung.

Zurück in Chicago wird Braxton Mitglied der Musikerkooperative AACM. Er genießt die angeregte Atmosphäre mit den zahl­reichen Konzerten, in denen die Musik über die Ufer steigt. Er studiert ­nebenher an der Roosevelt University, fühlt sich mit seiner Musik aber in der Philosophie-Abteilung besser verstanden als in der Musik­wissenschaft und gründet mit dem Trompeter Leo Smith und dem Violinisten Leroy Jenkins die Creative Construction Company. »3 Compositions of New Jazz«, sein Debütalbum, wird nicht nur im Downbeat, dem Zen­tral­organ des Jazz-Establishments, in hohem Bogen verrissen — auch in der AACM ist die Kritik harsch: Braxton swinge nicht, heißt es; seine Musik sei »europäisch«. ­Seine breit gestreuten Interessen machen Braxton zu einem Musiker zwischen allen Stühlen und Musik-Mythologien, ein Musiker, der sich den einfachen Dichotomien entzog, dem schwarz oder weiß, Improvisation oder Komposition, traditionell oder konventionell gleichwertige Ausgangspunkte  waren, von denen aus er seine eige­nen Spuren zog.

Braxton zog nach New York, Erfolge kamen und verpufften so schnell wie sie gekommen waren. Zeitweise wurde Schach zu seinem Rettungsring, im Washington Square Park spielte er gegen Geld, tagelang, und die musikalischen Aktivitäten verschwanden ein Stück weit im Obskuren der Avant­garde. Diese Phase war beendet, als ihn das legendäre Mills-College in Oakland, an dem schon Dave Brubeck und Philip Glass studiert hatten, Mitte der 1980er  in den Lehrkörper berief.

Der Ruf auf eine Professur für Musik an der Wesleyan University in Connecticut stellte ihn schließlich wirtschaftlich auf eine solide Basis. Diese Universität ist für ihr liberales Lehrprofil bekannt und folgt auch in ästhetischen Belangen eher undogmatischen Wegen. Dort hat Braxton unter den Studierenden und Absolvent*innen einen neuen Reso­nanz­raum für seine Ideen und Pro­jekte gefunden. Der Trompeter Tayler Ho ­Bynum und die Gitarristin Mary Halvorson, beide längst weltweit führende Instrumentalist*innen, bilde­ten lange Zeit mit Braxton die Stammbesetzung des Diamond Curtain Wall Trios, das die verschiedenen Dimensionen ­seiner Kompositionen zwischen verlässlichem Puls, präzise definier­ten Linien­fragmenten, vertrackter Raumstruktur proto­typisch mit dem Leben der Improvisation füllte: transparent und sensibel, brachial und fragil, streng und offen zugleich entlang mehrerer Achsen. In der neuen Besetzung mit der Trompeterin Susana Santos Silva und dem Akkordeonisten Adam Matlock hat sich das Klangbild des Diamond Curtain Wall Trios verschoben, ohne dass die Achsen, die seine Konturen definieren, andere geworden wären. Das Trio öffnet Räume, die schwer zu durch­dringen sind, die sich verschieben, krümmen, die pulsieren und sich bewegen. Räume, die keinen Stillstand kennen: Räume lebendiger, vernetzter Musik.  Stefan Hentz