Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Bowie als Ziggy

Moonage Daydream

Brett Morgan lässt David Bowie in einem atemberaubenden ­Dokumentarfilm sein Geheimnis

»I’m the space invader«, singt ­David Bowie im Song »Moonage Daydream«, der Brett Morgans Film seinen Namen gibt. Der Film ist eine Hommage an einen großen Künstler, der es trotz eines jahrzehntelangen Lebens im Rampenlicht stets schaffte, ein wenig unnahbar und enigmatisch zu bleiben. Besonders in den 70er Jahren, als ­Bowie quasi im Albumtakt die Persönlichkeiten wechselte, mal Ziggy Sturdust war, mal der Thin White Duke, mal Major Tom. Der Weltraum hatte es nicht nur ­Bowie angetan, sondern auch den Journa­listen, die das Bild des Außer­irdi­schen, der mit seiner Musik und seiner Persona begeisterte und irri­tierte, gerne weiterverbreiteten.

Im Weltraum, mit Bildern des Mondes, beginnt auch »Moonage Daydream«, ein Dokumentarfilm zwar, der jedoch all die Fallstricke eines modernen biografischen Films vermeidet. Das Rauschen des Weltalls, das Piepsen von Satel­liten vermischt sich mit Bowies Stimme: »Alles ist vergänglich«, sagt sie, außer vielleicht die Bilder und Töne, die durch das Weltall geschickt und möglicherweise irgendwo von wem auch immer registriert werden.

Wie in einem Bilderrausch nähert sich Morgans Film nun der Erde, Ausschnitte aus Stummfilmklassikern wie »Metropolis«, »Nosferatu« oder »Ein andalusischer Hund« fliegen vorbei, später geht es mit »Blade Runner« oder Eisensteins »Ivan, der Schreckliche« weiter, als hätte der Filmemacher Zugriff auf alle Archive des 20. Jahr­hunderts gehabt, dazu kommen Bildzitate von Künstlern wie Wolf Vostell oder Gerhard Richter. Und unter all den Bildern: die Musik von David Bowie.


Bowie bleibt ein ­Mysterium, das sich auch nach den 140 Minuten von »Moon­age Daydream« nicht endgültig auflösen lässt

Mitreißend, atemberaubend sind diese ersten Minuten, und das Tolle ist: Morgan hält die Energie. »Moonage Daydream« wird nie zum konventionellen biografischen Dokumentarfilm mit einem linearen Abriss von Leben und Karriere des Subjekts. Morgan, der schon mit »Kurt Cobain, Montage of Heck« und dem Stones-Film »Crossfire Hurricane« ambitionierte Musikfilme vorlegte, hat mehr im Sinn.

Statt die Stationen einer Karriere zu bebildern, statt einen visualisierten Wikipedia-Eintrag zu liefern, bildet die emotionale Entwicklung Bowies den losen roten Faden, sein Wachsen als Künstler und vor allem als Mensch, seine Wandlung von einem tatsächlich schüchternen Mann, der sich auf der Bühne auslebte, zu einem in sich ruhenden Menschen, der mit Mitte 40 in seiner Ehe mit dem Model Iman endgültig zu sich selbst fand und die buddhis­ti­schen Maxime, der er seit langem folgte, tatsächlich auch lebte.

Nach seinem Tod 2016 erhielt Brett Morgan Zugang zu Bowies umfassendem Archiv, konnte auf Fotos, Gemälde, Skulpturen, Kurzfilme, Konzertaufnahmen und natür­lich Bowies Musik zurückgreifen und formte aus dem Material in fünfjähriger Arbeit einen kalei­doskopartigen Blick auf ­Bowie, sein Wesen und sein Denken. Biografische Daten bleiben fast völlig außen vor, all die Daten und Fakten, die man heutzutage problemlos googeln kann, ebenso wie die für einen Film dieser Art meist üblichen talking heads: Keine Freunde und Weg­begleiter, keine Journalisten oder Fans kommen zu Wort, sondern ausschließlich David Bowie selbst.

Bemerkenswerte Fernsehinter­views, meist aus den 70er Jahren, sind hier zu sehen, in denen nicht geplaudert wird und Produkte beworben werden, wie es heutzutage meist der Fall ist, sondern tatsächlich diskutiert wird. Als überlegte, selbstkritische und reflektierte Person erweist sich Bowie in diesen Szenen, als nachdenklicher, sich ewig wandelnder Künstler.

Als Ruhepausen funktionieren diese Momente, als Atemholen in einer filmischen Wellenbewegung, die meist von schnell geschnittenen Bildkollagen geprägt ist, aber auch immer wieder minutenlange Konzertausschnitte aus allen Phasen von Bowies Karriere zulässt. Auf der Bühne scheint Bowie vor allem in der ersten Hälfte seiner Karriere ganz in seinem Element gewesen zu sein, wenn er hinter den Masken seiner zahlreichen Kunstfiguren verschwinden konnte. Aber auch später blieb er ein Mysterium, das sich auch nach den 140 Minuten von »Moonage Daydream« nicht endgültig auf­lösen lässt — und gerade des­wegen so fasziniert.

USA 2022, R: Brett Morgan, 140 Min. Start: 15.9.