Wie man Freund der Kapitalisten wird

Materialien zur Meinungsbildung

Warum werde ich jetzt immer geduzt? Früher taten das außer Freunden nur Kinder und Ikea. Jetzt machen es Krankenkassen, Kreditinstitute, Verkehrsunternehmen. Es ist wie in »Stukkis’ Gyros-Tempel«, wo Stukki jeden Kunden »mein guter Freund« nennt. Ich fühle mich verbal befummelt. Die Profi-Kapitalisten machen es jetzt wie Stukki, nur geschickter.

Wer zu siezen und wer zu duzen ist, gründete einmal in einem feinen Sinn für Nähe und Distanz. Dass etwa Kinder nicht jeden duzen sollten, lag daran, dass mangelnde Distanz als unhöflich empfunden werden, aber auch bedroh­lich wirken kann. In der doppelten Bedeutung des Begriffs »Achtung« klingt das noch an.   

Jeden zu duzen, erscheint mir in einer Zeit, in der so oft von »Achtung« die Rede ist, unpassend. Es gibt ja auch »geschützte Räume«, die nur betreten darf, wer bestimmte Eigenschaften besitzt oder sich anderweitig als zugehörig ausweisen kann. Es sind Orte, an denen Achtung viel gilt. Wie passt dazu der Triumph des Duzens, also der Miss-Achtung der Distanz?

Das uneingeschränkte Duzen war früher nur dort gängig, wo Formen für den geselligen Umgang rundweg als Verstellung galten. Wer als Künstler, Outlaw, Ausgeflippter seinesgleichen siezte, war ein Spießer und machte sich verdächtig, der Vertreter eines einengenden Systems zu sein.

Jenseits dieser Kreise war das Angebot, sich künftig zu duzen, immer ein magischer Moment. Denn damit war alles anders zwischen zweien. Wie bei jeder Magie stellt sich aber auch Unsicherheit ein. Man lieferte sich aus, und vieles konnte man nun sagen, was zuvor unerhört gewesen wäre. Zärtliches und Harsches, Lob und Tadel, alles geht schneller, reicht weiter, wirkt tiefer, wenn man nicht mehr per Sie ist.

Es sinkt auch die Hemmschwelle, sich ungestümer zu benehmen. Wenn Gesine Stabroth und ich uns siezen würden, gäbe es weniger enthemmt Heiteres, aber auch weniger bösen Streit. Vieles bliebe auch unausgesprochen, aber ist das immer falsch?

Das Duzen, das nun um sich greift, übergriffig wird, ist eine aufgezwungene Nähe, eine verbale Umklammerung, aus der man sich nur schwerlich wieder lösen kann. Dieses »Du« mag uns schmeicheln, aber es wirkt auch wie die Aufnahme in einen Club, aus dem man niemals mehr austreten kann. Wer wechselte jemals vom Du zum Sie?  

Wer geduzt wird, gilt als Freund. Freunde sind höchstens enttäuscht oder besorgt. Und so werden Kunden von Krankenkassen, Kreditinstituten, Verkehrsunternehmen zu Freunden gemacht oder gar zum »Teil der Familie«. Sie prangern keinen Konzern an, sondern helfen mit, »damit wir besser werden.« So funktioniert der ins Extrem getriebene individualisierte Kapitalismus: Es gibt kein Außerhalb mehr.

Man liest ja vieles über die Schrecken der »bürgerlichen Klein­familie«. Aber ist man in der ­»Familie« eines Konzerns besser aufgehoben? Dort streiten nicht Mama, Papa, Kind, wer mit dem Hund rausgeht, sondern Follower, Fans und Feedbackgeber helfen konstruktiv mit ihrem »Input« der Chefetage — sie mag die Vielfalt ­einer bunten und toleranten Gesellschaft spiegeln, bleibt aber ­immer noch eine Chefetage — Outdoor-Kleidung oder Nahrungsergänzungsmittel zu optimieren. Ich würde lieber Gassi gehen und mich vom Hund ziehen lassen, als mich vor den Karren eines Telefonanbieters zu spannen, der mir mit Sonderangeboten zum Geburtstag gratuliert.

Nun kann das Siezen auch sehr steif wirken, und wir sind doch alle super locker drauf — was tun? Auch hier kann Stukki von Stukkis’ Gyros-Tempel helfen. Stukki ruft einem seiner vielen guten Freunde hastig hinterher: »Hallo! Achtung, Frau Erdem! Du hast Deinen Krautsalat und Deine Cola stehen lassen!«