Geschichte in Bildern: Ein Leben auf Sand gebaut?

Erinnerungen für die Zukunft

Jeanine Meerapfel, von 1990 bis 2008 Professorin an der KHM, erforscht mit »Eine Frau« die Biografie ihrer Mutter

»Bei jedem Umzug (…) springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerung zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung zu finden (…) Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen. Es verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird. Eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, durch eine Erzählung die Erinnerungen zu ordnen.«

Mit diesen Worten beginnt Jeanine Meerapfels Dokumentarfilm »Eine Frau«. Es ist der aktuelle Versuch der 1943 geborenen Filmemacherin, einen Sinn zu finden im Leben ihrer Mutter Marie Louise »Malou« Chatelaine. »Malou« hieß Meerapfels erster langer Kinospielfilm in alleiniger Regie, uraufgeführt vor vierzig Jahren. Die eigene Familie hatte Meerapfel für den Film umgetauft in Kahn, da die Geschichte zwar autobiografisch motiviert war, jedoch keine sich entwickelnde Nacherzählung ihrer Leben lieferte, die auf historischen Fakten basierte. Es ging ums Prinzip: Malou war Französin, stammte aus einfachen Verhältnissen und hatte schon allerhand mitgemacht, als sie einen wohlsituierten deutschen Geschäftsmann kennenlernte, dessen jüdische Herkunft sie nach 1933 zur Flucht nach Argentinien zwang, dem Heimatland ihrer Tochter Hannah.

Das stimmt alles. Damals jedoch war Meerapfel eher an Emotionen interessiert als an Fakten. Wie fühlt sich so ein Leben an? Und was macht das mit einer wie ihrer Mutter? Jeanine Meerapfel verglich Malou mit einem Tango, was heute kitschiger klingt als vor vier Dekaden. Aber die Gefühlsschwere von »Malou« wurde schon seinerzeit immer wieder hervorgehoben. Oft kritisch, auch mal bestärkend, weil diese Emotionalität notwendig wirkte in einer Filmkulturlandschaft der forcierten Ironie. Dem Titel zum Trotz dreht sich »Malou« um Hannah, also Jeanine, die versucht, aus der Geschichte ihrer Mutter zu lernen. Vor allem, dass man sich nicht abhängig machen sollte von Männern und von ihren Empfindungen für sie. Wie weit Hannah damit kommt, weiß man nicht, die Schreibweise des Namens als Palindrom hat jedoch etwas Schicksalhaftes: Hannah ist in sich eingeschlossen, das kann sie drehen und wenden, wie sie will. Sie bleibt immer sie selbst.

Das Insistieren aufs Gefühl war eine zeitgemäße Entscheidung, der Jeanine Meerapfel als Filmemacherin auch dann treu blieb, als sich die Zeiten und damit die Tonalitäten änderten. Auch ihr Themenfeld änderte sich nicht: Emigration, Fremdsein, die Macht der Geschichte, und was sie mit den Menschen macht. Film für Film eine neue Versuchsanordnung mit mehr oder weniger denselben Elementen, Faktoren. Was Meerapfel zu Beginn von »Eine Frau« darlegt, ist ihre Methode.

Aufschlussreiche Details kommen dadurch zu Tage. Orte werden besucht, mit Fotos verifiziert Dabei trifft Jeanine Meerapfel auf Fremde, die nun in denselben Räumen leben wie einst ihre Mutter — bis dahin ahnungslos, mit was für einem Dasein sie verbunden sind. Das erinnert an den Besuch der Protagonistin Melek aus Meerapfels »Die Kümmeltürkin geht« von 1985, die vor ihrer »Rückführung« in die Türkei das Zimmer besucht, in dem sie Jahre zuvor nach der Ankunft mit anderen Migrant*innen gelebt hatte, und wo sich mittlerweile ein Büro befindet. »Eine Frau« ist diesbezüglich angenehm stur: Die historische Abfolge der Ereignisse wird eingehalten, Malous Weg so genau verfolgt, wie es die privaten und die bürokratischen Reste ihrer Existenz zulassen. Die Bilder stellen die Gegenwart von Orten und Objekten fest — nüchtern, wenn auch meist in ein feines Licht getaucht. Die Erzählung und Wortwahl sorgen für Perspektiv­erweite­­rungen, zum Beispiel wenn Meerapfel ihre Mutter als talentierte Imitationskünstlerin charakterisiert. Sie konnte sich stets einem neuen Umfeld anpassen, etwa indem sie in den Niederlanden Schlittschuhlaufen lernte.

Die Geschichte von Malou ändert sich nicht, egal wie oft Meerapfel sie erzählt und variiert. Genauso wenig wie Meerapfel das gewisse Timbre aus ihrer Stimme kriegt, auf dieser Ebene nie ganz in der BRD ankommen und immer etwas Fernes, aus der Ferne Kommendes an sich haben wird. Aber nun gibt es mit »Eine Frau« immerhin eine Version der Geschichte von Malou und damit auch eine Version der Geschichte ihrer Tochter, bei der diese dem Wesen der Dinge näherkommt, auch wenn die Dinge sich ihr gefühlt immer mehr entziehen.

D 2021, R: Jeanine Meerapfel, 104 Min., Start: 1.12.