Körper als Gemeinsames: Helene Bukowski

Verwundbare Körper

Jule Govrin, Frédéric Valin und Helene Bukowski fragen nach dem Gemeinsamen unserer Körper

 

 Unsere Körper sind politisch — gegenwärtig wahrscheinlich mehr denn je. Gegenstand öffentlicher Debatten sind sie aber nicht erst durch antirassistische oder feministische Bewegungen jüngerer Zeit, und politisch auch nicht nur im parlamentarischen Sinne. Der Körper als Schauplatz des Politischen ist geschichtlich tief verwurzelt und zeigt sich überall dort, wo über die Körper Unterschiede zwischen den Menschen eingeführt werden. Die Einschreibung von Differenzen in die leibhaften Körper reguliert bis heute das Maß an gesellschaftlicher Teilhabe oder Ausschluss. Die Autor*innen Jule Govrin, Frédéric Valin und Helene Bukowski befassen sich in ihren aktuellen Büchern mit verschiede­nen Körperpolitiken, setzen Körperlichkeit in den Kontext gegenwärtiger Konflikte wie Pandemie oder Krieg und fragen, was uns Menschen bei all den Differenzen eigentlich noch verbindet: Wie lässt sich Gleichheit in zunehmend heterogenen Gesellschaften denken?

Die Philosophin Jule Govrin nimmt diese Frage als Ausgangspunkt ihrer theoriegeschichtlichen Auseinandersetzung mit den Körperpolitiken. Ihr Sachbuch »Politische Körper« untersucht die Funktion und Regulation der Körper im gesellschaftlichen Zusammenleben, ausgehend von körperlichen Differenzen: »Um Gleichheit zwischen Körpern zu begreifen, muss man also bei ihrer Ungleichheit beginnen.« Den Ursprung der körperlichen Ungleichmachung sieht Govrin ausgerechnet in jener geschichtlichen Strömung, die Gleich­heit verspricht: der Aufklärung. Die Aufklärung habe ihre uni­ver­salistischen Werte an die einzel­nen Körper der Individuen geknüpft, um sie so nicht nur best­möglich ökonomisch und politisch zu verwalten, sondern auch zu verwerten. Damit seien die Körper poli­tisiert und der Weg für biopolitische Markierungen freigemacht worden. Gemessen an ihrer Repräsentation oder Produktionskraft, untersucht Govrin verschiedene Dimensionen poli­tischer Körper. Dem pandemischen Körper widmet sie ein ausführliches Kapitel. Denn die Pandemie habe besonders deutlich gezeigt, wie körperliche Zuschreibungen schutzbedürftige Minderheiten an den Rand der Gesellschaft drängen.

Um die Marginalisierung sorgebedürftiger Gruppen geht es auch in Frédéric Valins autobiografischer Erzählung »Ein Haus voller Wände«. Das Haus voller Wände ist eine Wohneinrichtung für Menschen, die als geistig behindert gelten. Die Entmündigung, die in dieser Markierung ihres Körpers mitschwingt, macht sie zu Randbewohner*innen der Gesellschaft. Weil sie von der Norm abweichen, werden sie von der Allgemeinheit abgeschottet. Teilhabe wird ihnen bestenfalls durch die Arbeit in Werkstätten gewährt — doch: »Der Preis der Inklusion ist die Ausbeutung der Außenseiter*innen.« Selbst als Pflegekraft tätig, beschreibt Valin die Arbeit eines Pflegenden, die die Gepflegten genauso prägt wie die zu Pflegenden ihn. Selbstkritisch hinterfragt sein Protagonist die Machtmechanismen von Care-Arbeit sowie das System, das hinter ihnen steht. ­Dabei beobachtet er, wie sich die Ungleichheit zwischen gesunden und vulnerablen Menschen durch die Pandemie verstärkt hat. In der Krise wird das Haus voller Wände zu einer »totalen Institu­tion«, die die Freiheit der Bewohner*innen zugunsten der Freiheit der Mehrheitsgesellschaft durch absolute Abschottung beschränkt. Am Ende habe die Pandemie allerdings nur dazu geführt, dass über die Arbeit der Pfleger*innen gesprochen wird, nicht aber über die Gepflegten selbst. »Wir sind nicht eine Gesellschaft«, stellt Valins Pro­tago­nist fest. »Wir debattieren ernsthaft die Verschärfung einer Segregation, die so schon immer existiert; wieder einmal unter Aus­schluss derjenigen, die es betreffen wird.« Valins Erzählung ist eine kluge Analyse der Sorgearbeit und ihrer Umsorgten, die jeder lesen sollte, um zu verstehen, wie gesell­schaft­liche Teilhabe und Ausschluss in der Praxis funktionieren.

Jule Govrin wiederum sieht in der Sorge auch die Chance auf Solidarität.  Denn mit Verweis auf ­Judith Butler versteht sie die Menschen als grundsätzlich körperliche und affektive Wesen, die verwund­bar zur Welt kommen und permanenter Fürsorge bedürfen. »Verwundbarkeit scheint allen Menschen eigen zu sein — in dieser Allgemeinheit zeigen sich Anzeichen von Gleichheit.« Daher unterscheidet Govrin zwischen einer strukturellen Verwundbarmachung, die spezielle Gruppen durch paternalistische Zuschreibungen zu vulnerablen erklärt, und einer ontologischen Verwundbarkeit, die eine Grundbedingung unseres Daseins sei.

Die Protagonistinnen in Helene Bukowskis Roman »Die Kriegerin« wollen jedoch genau das nicht: ­einen Körper, der verwundbar ist. Durch eine militärische Ausbildung hoffen sie ihre Körper abzuhärten und jede Vulnerabilität zu überwinden. Denn Lisbeth leidet seit ihrer Kindheit an einer Hautkrankheit. Oft stellt sie sich vor, ihre körperliche Hülle wäre ein Kostüm, das sie einfach ablegen kann. Doch ihre Haut juckt, blutet und nässt. Erleichterung findet sie allein in körperlichen Herausforderungen und so beschließt sie, Soldatin zu werden. »Nur selten erlaubte sie ihrem Körper, nachzugeben.« Auch die Kriegerin, die Lisbeth während ihrer Grundausbildung bei der Bundeswehr kennenlernt, gestattet ihrem Körper keine Schwächen, weil es ihre Großmutter, traumatisiert von den eigenen Kriegserlebnissen, ihr so beigebracht hat. Es sind jene sexualisierten Gewalterfahrungen, die auch Lisbeth in ihrer Zeit als Soldatin widerfahren und zum Abbruch der Ausbildung führen. Als sich beide Jahre später an der Ostsee wiedertreffen, müssen sie sich nicht nur damit auseinandersetzen, wie ihre Körper zu Objekten von Gewalt wurden, sondern auch, dass von ihnen selbst Gewalt ausging. Eindringlich und sensibel erzählt Helene Bukowski von Frau­en in männerdominierten Milieus, von Körpern als Kriegswaffen und körperlicher Verletzbarkeit. Dass in der Anerkennung ihrer Verwund­barkeit auch ein solidarischer Akt der Ermächtigung liegt, wird die beiden Frauen am Ende unauflösbar miteinander verbinden.

Vielleicht müssen wir Gleichheit letztlich anders denken: nicht als etwas, was von oben gewährt, sondern das von unten erkämpft wird — und zwar aus dem Miteinander unserer Körper. Die Philosophin Jule Govrin plädiert daher für einen Universalismus von unten, der nicht auf Gleichförmigkeit abzielt, sondern Differenz in ihrer Gleichheit anerkennt.

Jule Govrin: »Politische Körper: Von Sorge und Solidarität«, Matthes & Seitz, 261 Seiten, 18 Euro
Frédéric Valin: »Ein Haus voller Wände«, Verbrecher Verlag, 202 Seiten, 24 Euro
Helene Bukowski: »Die Kriegerin«, ­Blumenbar, 256 Seiten, 23 Euro