Wie tickt der Anarchismus?

Der Filmemacher Cyril Schäublin orientiert sich in »Unruh« an einer Reise Kropotkins ins anarchistische Herz der Schweiz. Ein Gespräch über frühere und über bessere Zeiten

Unruh nennt man ein Feder-Schwingsystem, das als Herzstück vieler mechanischer Uhrwerke dient. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Uhrenfabriken des Schweizer Jura zu einem Zentrum des internationalen Anarchismus. Ein wahrer Unruheherd. Die Aufbauarbeit der Arbeiter:innen zog den neugierigen, sozial bewegten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin 1872 beinahe zwangsläufig an.

»Wenn man sich mit den anarchistischen Gewerkschaftsbewegungen in den Anfängen der Schweizer Uhrenindustrie auseinandersetzt, stößt man irgendwann auf die Figur Kropotkin«, erklärt Cyril Schäublin. Der Regisseur von »Unruh« beschäftigte sich intensiv mit Kropotkins Memoiren. »Der Film nimmt die Perspektive von Kropotkin im Sinne eines reisenden Menschen ein, der sich wundert. Etwa wenn er zuhört, wie in den Uhrenwerkstätten während des Arbeitens politische Gespräche geführt werden. Aus einer anarchistischen Perspektive der 1870er Jahre erscheint es aber fragwürdig, dass wir uns auf ein paar wenige Köpfe wie Kropotkin, Schwitzguebel, Proudhon, Goldman oder Bakunin konzentrieren. Diese Bewegung war auch ein Versuch, die Organisationsstrukturen im Denken sowie in der Arbeit zu dezentralisieren.«

So ist Kropotkin nicht die konventionelle Hauptfigur von »Unruh«: Er ist wie in seinen Erinnerungen der Fremde oder Neuling, durch den die Zuschauer:innen die Orte und Personen des Films entdecken. Statt Kropotkins Biografie erzählt Schäublin dessen politischen Bewusstwerdungsprozess – die kurze Zeit in der Uhrenfabrikkleinstadt St. Imier machte aus dem vorsichtigen Sozialisten einen überzeugten Anarchisten. Der Filmemacher interessiert sich dabei weniger für psychologische Zustände und Entwicklungen als für Klassenverhältnisse und deren Veränderbarkeit: »Ein junger, anarchistischer Dichter aus Sankt Petersburg erzählte mir, dass zu Beginn der Sowjetunion eine Künstler-Bewegung um den Dichter Tretiakov herum entstand, die die Ansicht vertrat, dass man den Maschinen die Protagonistenrolle übergeben sollte. Man sollte Gedichte oder Geschichten schreiben, in denen die Maschinen die Hauptfiguren darstellen, nicht die Menschen. Das fand ich eine schöne Überlegung. Denn die Beziehung zwischen Mensch und Maschine verdient es meiner Meinung nach, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet zu werden. Daraus resultierte auch der Wunsch, dass die Unruh die Hauptfigur im Film sein könnte.«

Die Arbeit der Uhrenherstellung hat in Schäublins Familie Tradition: »Meine Großmutter und meine Großtanten arbeiteten in einer Uhrenfabrik, und auch deren Mütter, Tanten und Großmütter haben ihre Tage mit der Herstellung dieser Unruh verbracht.  Mich hat nun die Uhrenfabrik als Ort interessiert. Wie gestalteten sich dort menschliche Austäusche und Begegnungen?«

In Schäublins »Unruh« werden immer wieder Landstriche studiert und erfasst. Damit beschäftigt sich der Geodät Kropotkin, aber auch Angestellte einer Uhrenfabrik, die Wege abgehen und Zeiten stoppen, um die effizientesten Routen durch das Gelände zu fixieren. Damit sich die Arbeiter:innen daran halten mögen und das Unternehmen mehr von ihrer Zeit in Anspruch nehmen kann. Absurderweise gibt es zudem in St. Imier mehrere Zeiten, die Fabrikzeit ist den anderen Zeiten einige Minuten voraus.

Schäublin vergleicht politische Wege, indem er den Internationalismus der Anarchisten, die für ihre notleidenden Genoss:innen in den USA Geld sammeln, auf den vaterländischen Patriotismus der Bourgeoisie prallen lässt. Schäublin: »Durch die Gegenüberstellung mit der liberalen, autoritären, patriarchalischen und nationalistischen Bewegung der damaligen Zeit wird das Publikum eingeladen, sich eine eigene Meinung zu bilden: Wie stellen sich Gesellschaften die Vergangenheit vor, um ihre Gegenwart zu gestalten? Die Vorstellung, dass Anarchismus etwas Chaotisches sei, ist auch eine Erfindung dieser Gegenbewegung. Mir erscheinen die kapitalistischen und nationalistischen Organisationsgefüge mit ihrer Abhängigkeit von Disruption viel ungeordneter, unsicherer und gefährlicher für die Menschen, als die anarchistischen Ansätze jener Zeit.


Mir erscheinen die kapitalistischen und nationalistischen An­­sätze viel unge­ordneter, unsicherer und gefährlicher als die anarchistischen jener Zeit (Cyril Schäublin)

Unverheiratete Arbeiterinnen hatten in den 1870er Jahren kein Anrecht auf staatliche oder von der Fabrik angebotene Krankenversicherungen. Die erste Krankenkasse bekamen diese im Tal von St. Imier von der anarchistischen Kooperative gestellt. Daraus musste sich für einen wesentlichen Teil der Bevölkerung die Frage nach Zugehörigkeit stellen: Ist man Teil dieser neuen ’Nation’ Schweiz. Oder identifiziert man sich mit einer transnational agierenden anarchistischen Bewegung, die die Arbeiterklasse als Territorium verstand, und nicht staatlich gesetzte Landesgrenzen?«

Im Film sei es ihm wichtig gewesen, so Schäublin, »dem Mechanismus der Unruhe in der Uhr eine bildliche Repräsentation zu verleihen und aufzuzeigen, dass die Zeitmessung nichts weiter als eine mechanische Konstruktion ist — keine finale Wirklichkeit. Genauso wie es sich beim Nationalstaat um ein Imaginär handelt.«

Schäublins Sympathien gelten der arbeitenden Klasse. Ihren Vertreter:innen schenkt er Blicke, in denen ihr Wille deutlich wird, die Welt so zu verändern, dass die Vielen darin in Würde leben können. Man beachte, wie sorgsam anhand weniger Details — Haare, Augen, Gesten — sämtliche Arbeiterinnen der Uhrenfabrik gezeichnet sind.  So hebt Schäublin ihre Individualität trotz der Einheitskittel hervor. Bei den Industriellen und ihren Helfershelfern unter den Beschäftigten in der Verwaltung oder den Ingenieuren ist er nicht weniger genau. Diese Figuren sind allerdings oft in etwas absurden Situationen zwischen Komödie und unterschwelligem Horror zu sehen. Dazu zählt der Sekundeneinsparungsfanatismus der Fabriksgeländeabgeher ebenso wie die gruseligen Höflichkeit, mit der die Besitzenden ihre Macht ausspielen.

Den Arbeiter:innen aber gibt Schäublin die sympathischste aller Waffen im Klassenkampf mit: den Witz. Beispielsweise wenn ein Kneipenbesitzer sich listig über ein Verbot der Obrigkeiten hinwegsetzt, oder als Kropotkin und die Arbeiterin Josephine einander finden. Das Genie Cyril Schäublins liegt darin, wie er diese Tonalitäten ineinander übergehen lässt, sodass sich der Film mit wunderbarster Gelassenheit zwischen Pathos und Farce bewegt.

(Unrueh) CH 2022, R: Cyril Schäublin, D: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, 98 Min., Start: 5.1.