Zugehupt

Materialien zur Meinungsbildung

Wenn man nicht gerade die Plattentektonik oder den Sonnenwind kritisiert (was sicher zu selten geschieht), trifft jede Kritik immer auch Menschen. Jemand ist schließlich für etwas verantwortlich. Dass Kritik nicht persönlich gemeint sei, ist wohlfeil und dient nur dazu, eine edle Gesinnung des Kritikers zu behaupten. Zwar sind wir immer mehr als bloß das, was wir tun. Aber das, was wir tun, gehört zu dem, wer wir sind. Es ist eben nicht so, wie Tobse Bongartz sagt, der meint, er sei »Vegetarier, bloß nicht praktizierend«.

So wie Kritik aber immer auch persönlich ist, gibt es ebenso eine Kritik, die vor allem persönlich ist. Man sucht dann nur danach, was jemand tut, um »tiefste Empörung« und »nachhaltige Irritation« zu bekunden oder vorgeblich gar einen kaum zu bändigenden Würgereiz zu verspüren. Dafür wurde das Internet erfunden. Nun kann es aber, drittens, auch geschehen, dass man Kritik äußert und erst im Nachhinein feststellt, wen man damit trifft. Womöglich jemanden, der ansonsten unbescholten ist, und den wir, hätten wir’s bloß geahnt, von strengen Vorhaltungen ausnehmen würden. Das kann peinlich sein. »Welche Pissflitsche hat mit ihren verdammten Amazon-Kartons wieder die Blaue Tonne verstopft?« O je, die nette neue Nachbarin, die sich so rührend um Oma Porz kümmert? Na, da will man doch nichts gesagt haben! Kann doch mal passieren... Und haben wir nicht andere Probleme als verstopfte Altpapiertonnen? Man wird immer widrige Umstände geltend machen können: Es ist halt echt schwierig, diese Kartons zu zerlegen. Und Nürnberger Würstchen schmecken Tobse Bongartz einfach zu gut, seit er damit als Kind gefüttert wurde.

Neulich hupte mich ein Auto an, so dass ich beinahe vom Fahrrad geplumpst wäre! Da wurde ich fuchsteufelswild — bis ich erkannte, dass es Herr Schröder aus dem zweiten Stock war. Nun, das sei mir nachgesehen, ist mir Herr Schröder ein bisschen egal. Trotzdem war mir das peinlich. Wie stand ich nun da? Ein Grobian mit kurzer Lunte! Aber hatte ich überhaupt etwas falsch gemacht? Ich fand, nicht. Deshalb ja auch meine Aufregung. Herr Schröder verachtet also Leute auf klapprigen Fahrrädern und hupt sie beiseite! Das wird man ja wohl mit einem Stinkefinger kritisieren dürfen! Aber wer war ich? Jemand, der bei Kritik — sei sie auch unberechtigt und per aggressivem Hupsignal vorgetragen — gleich ausflippt? Offenbar.

Dann traf ich Herrn Schröder im Treppenhaus. Dröhnend wie immer kam er auf mich zu: Na, ob ich ihn gehört hätte neulich, er habe mir »zugehupt«, man sehe sich ja so selten, lebe im selben Haus, aber irgendwie aneinander vorbei, und da habe er sich doch gefreut, mich mal draußen, ganz woanders zu sehen. Aber ob mir das nicht etwas zu blöd sei, mit dem klapprigen Drahtesel im ­Regen? Von meinen wilden Gesten sprach er nicht. Sparte er das Offenkundige aus? Ganz Gentleman? Oder hatte er nichts bemerkt? Es passt nicht zu der Art, wie Herr Schröder sein Auto lenkt, dass er in den Rückspiegel schaut. Ich grinste hilflos und murmelte irgendetwas, das beiläufig wirken sollte. Noch lange dachte ich daran und wie schwierig es ist, zu deuten, was die Menschen tun. Ich war geradezu beruhigt, als er mich anderntags im Treppenhaus wieder im gewohnten Herr-Schröder-Sound anraunzte, ich müsse meinen »klapprigen Drahtesel« aus dem Flur »entfernen«, und ob ich die Hausordnung nicht lesen könne. Herrn Schröder gelingt das Kunststück: Mich für alles, was ich tue, zu kritisieren, aber es nicht persönlich zu meinen. Es geht also! Da war für mich die Welt in Ordnung. Und nachdem mein Fahrrad im Keller stand, sicher auch für Herrn Schröder.