Auf dem Weg ins Handgemenge: Kurt Tallert (links), Joscha Oetz und der Perfektomat-Bass

Nervenbahnen, ständig überreizt

Rapper Retrogott und die Band Perfektomat haben sich getroffen, um semantischen Jazz zu spielen — oder harmolodischen HipHop

»Wir wollten den Druck rausnehmen und den Dreck reinnehmen«, sagt Joscha Oetz und muss schon wieder fast lachen. In dem Satz klingt nämlich ein Wortspiel an, und das passt zu einem Album, das vor Wortspielen birst. Wir ­sitzen in seinem Büro in der Eigelsteintorburg, die Stimmung ist gut, denn »Zeit hat uns«, das ­besagte Album, steht kurz vor der Veröffent­lichung.

Endlich. Oetz hatte schon im Frühjahr 2020 davon erzählt, dass da »demnächst« was ganz Großes komme: eine Zusammenarbeit seiner Band Perfektomat mit dem Retrogott, Kölns HipHop-Diamanten, und wenn es eine Band gibt, zu der Retrogott passt wie die Technics-Plattenspieler zum DJ (alter Schule), dann ist das Perfektomat. Das fiel einem in dem ­Moment, wo Oetz die Zusammenarbeit erwähnte, wie Schuppen von den Augen. Natürlich, Perfektomat, wer sonst?!

Oetz — Bassist, Bandleader, Leiter der Offenen Jazz Haus Schule — hat mit dieser sechsköpfigen Combo einen Katalysator kreiert, durch den er und seine Mitstreiter Jazz-Traditionen, ­lateinamerikanische Rhythmen und die Strömungen der Avantgarde von Ornette Coleman bis (nicht verwandt) Steve Coleman durchschleusen, bis etwas Neues entsteht. Was Perfektomat auszeichnet: eine Offenheit, geboren aus Konzentration und Raffinesse. Ideal für die Wortkunst Kurt Tallerts, wie der Retrogott mit bürgerlichem Namen heißt: »Texte sind für mich nie was abgeschlossenes«, sagt Tallert im Gespräch. »Das ist ja eines der ästhetischen Fundamente des HipHop, dass man nie von etwas Fertigem ausgeht, sondern bestehende Werke wieder aufbricht, neu mischt, anders zusammensetzt.« »So ist es doch auch im Jazz«, pflichtet Oetz sofort bei. Man versteht sich.

Kunst, die nicht komplex ist, die hat den Schuss nicht gehört — einfach weil die Welt so komplex ist Joscha Oetz

»Wir wollten den Druck rausnehmen und den Dreck reinnehmen«: Damit beschreibt Oetz den anspruchsvollen  Aufnahme- und Misch-Prozess, der ab Oktober 2020 fast zwei Jahre in Anspruch nahm. Alles sollte stimmen, alles wollte diskutiert werden, beide Seiten wussten, dass ihre Zusammenarbeit was Besonderes ist — raus aus ihren Komfortzonen, rein in eine andere Komplexität. »Zeit hat uns« ist weder Jazz noch Hip­Hop, ist aber hörbar in diesen ­Traditionen verwurzelt. Der ­Vergleich mag abwegig klingen, aber er passt tatsächlich: Zu dieser Musik fällt einem der musikalische Weg ein, den Miles Davis in den frühen 70er Jahren einschlug, weg vom Jazz — aber wohin eigentlich? Das bleibt offen, muss auch offen bleiben.

»Kunst, die nicht komplex ist, die hat den Schuss nicht gehört — einfach weil die Welt so komplex ist«, darauf besteht Oetz. »Okay, natürlich kann man sagen: Weil eben alles so komplex ist, geben wir den Leuten ein bisschen was Einfacheres. Das Bedürfnis kenne ich auch. Aber für dieses Album gilt das nicht, das sollte nicht ­eskapistisch sein, das stellt sich der Komplexität.«

Und wie. Dass Retrogott, meistens im Duo mit Produzent und DJ Hulk Hodn und spätestens seit »Fresh und Umbenannt«, ihrem »Weißen Album« von 2013, der nimmersatte Klischee-Vertilger unter den Wortkünstlern ist, hat sich herumgesprochen. Aber die Virtuosität seiner lyrischen Mülltrennung verblüfft doch immer wieder und auf »Zeit hat uns« ganz besonders: »Die Verwirrung macht sich breit, und der Verstand macht sich lang«, unter diesem (kann man sagen) Motto schraubt er sich in die Texte rein und durch­mustert den Wahnsinn der Gegenwart: »Die Mönchskutte aus Wort­fetzen kannst du getrost ablegen.«

Die Musik ist in diesen vielschichtigen Zusammenhängen mehr als nur Begleitung. »Das rhythmische Element ist das zentrale. Rhythmus als Struktur in der Zeit: Zwar geht es mir um den Groove, aber allgemeiner geht es mir um Form«, sagt Oetz. Die Musik groovt deshalb nicht nur, sondern ist, wie die Texte, verschachtelt. Sie steht manchmal unschuldig neben dem Retrogott, mischt sich kommentierend ein, läuft auf verschiedenen Ebenen, die nicht unbedingt miteinander verklammert sein müssen. Oetz betont die entscheidende Rolle der afro-peruanischen Percussionistin Laura Robles: »Für den ­Perfektomat-Sound ist sie das ­prägende Element. Ihr eigenständiger Umgang mit der Tradition ist faszinierend.« Robles’ Rhythmusarbeit funktioniert durchgehend autonom. Eine Herausforderung, bekennt Tallert: »Bei einem Vierviertel-Rhythmus mit einem dominanten Beat habe ich bestimmte Anknüpfungspunkte. Aber jetzt ist die Musik von Brüchen durchzogen, da setzen mal die Drums aus, das bedeutet, dass der Stimme, dem Wort in diesem Moment viel mehr Gewicht zukommt.  Das ist eine andere Erfahrung für mich, weil die Musik so viele ­Herausforderungen bereithält.«

Dabei sind Musik und Sprechgesang erstaunlich introspektiv und über weite Strecken selbstreflexiv: viel Platz für die eigene Standortbestimmung, die es braucht, denn »die Erfahrung steckt unermessliche Bezirke ab«, wie es im Stück »Schweigen« heißt. Kritik am konsumistischen Zeitgeist, an der freiwilligen Knechtschaft, am Marktfetischismus bedeutet für Tallert Orientierung: Nicht vom Feldherrenhügel aus, man muss sich schon ins Handgemenge wagen! Jede Phrase ist ihm willkommen, weil sie sich auf das Abklopfen lässt, was an Gemeinheit oder Selbst­verblendung in ihr verkapselt ist — Reimen mit dem Hammer, solange klopfen, bis die hohlen Stellen hinter dem glatten Gefüge des ­Alltagssprech hörbar werden: »Schlag­zeilen­giganten aus der ­Zeitung der Zwerge kommentieren den Streit um Berge«.

Es war aber Oetz, der auf den Album-Titel kam und den dazugehörigen Text schrieb. »Zeit hat uns« spielt auf den Roman »There There« von Tommy Orange an, in dem ein krebskranker Mann die bittere Einsicht ausspricht: Wir haben keine Zeit, die Zeit hat uns. »Versuchend, zu verstehen, um zu stehen / Gehen wir in die Knie«, hat Oetz dazu getextet. Das Album macht gute Laune, aber es handelt nicht von guter Laune. »Die Nervenbahnen sind ständig überreizt, bis die Zukunft der Vergangenheit entgleist«, heißt es in einem anderen Stück.

Worin der Ausweg liegt? Don’t tell, show! Das ist die Haltung von Perfekto­mat und Retrogott, »Zeit hat uns« kommt ohne Botschaft, Handlungs­anweisung und positiven Ausblick aus. Das utopische Potential liegt in der Musik an sich und in der Wortkunst, in ihren verspielten, genau gearbeiteten Formen, die sich gegen alles schnell Konsumierbare sperren. Tallert nennt das semantischen Jazz — aufgeladen mit Bedeutung, bis einem schwindelig wird. Oetz repliziert: Wir spielen harmolodischen HipHop! Eine Anspielung auf jenes multidimensionale, multi­perspekti­vische Musik­denken, das Ornette Coleman einst Harmolodics nannte.

Es gibt Luft nach oben: einige Instrumentalsoli sind doch recht nah am Jazz-Klischee, dann fehlt es an Reibung, und manchmal wünscht man sich, Tallert würde mehr erzählen und weniger reimen, denn dass er ersteres kann, wird schon deutlich und macht Lust auf mehr. Aber das ist Kritik, die nach der Euphorie kommt — die überwiegt. Es ist ja auch ihr erstes gemein­sames Album: »Für mich ein Startpunkt«, sagt Oetz. »Die Arbeit war ein intensiver ­Prozess und hat bei mir sehr viele Ideen geweckt.« Unbedingt ­weitermachen also!

»Bisweilen genügt es, ein Problem genau zu formulieren, um es aus der Welt zu schaffen«, hatte Paul Valéry einst notiert. ­Angesichts der Cluster-Krise, in der wir stecken, ein irgendwie ­vermessener Satz. Aber in der ­intellektuellen, künstlerischen Auseinandersetzung beginnt Gesell­schafts­kritik mit Zeit(geist)kritik, und die beginnt mit Sprachkritik. »Ein Problem genau zu formulieren« — das macht »Zeit hat uns« aus. Mehr ist fast nicht möglich.

Tonträger:

Perfektomat und Retro­grott, »Zeit hat uns«
(ENTBS/ Rough Trade)
erscheint am 3.2.

Ab März auf Tour!