Hinter dem Schlüsseloch der Schriftstellerwohnung: Wolfram Lotz

»Aus dem Leben heraus MITSCHREIBEN«

Wolfram Lotz will in seinem Roman »Heilige Schrift I« ­beschreiben — und zwar restlos alles

Der Exzess ist die erklärte Absicht des jüngsten Buchs von Wolfram Lotz. Augenzwinkernd heißt es einmal über Rolf Dieter Brinkmanns »Rom, Blicke«: »Das ist ja auch völlig neurotisch, er will ja alles beschreiben.« Augenzwinkernd, weil das Ich in Wolfram Lotz’ »Heilige Schrift I« genau das auch will.

Dieses autofiktionale Ich, das wie sein Autor heißt und wie er  ein Schrift­steller ist, zieht für ein Jahr mit der Familie in ein Dorf nahe der französischen Vogesen. »Und plötzlich dachte ich: Es wäre einmal tat­säch­lich über ALLES zu schreiben.« Alles wird protokolliert, vier Monate lang auf mehr als 900 Seiten: Besuche bei der Zahnärztin, Spielen mit den ­Kindern, aber auch pointierte Analysen der Theatralität von Polit-Talk­shows, Reden des Bundespräsidenten, Daniel-­Kehlmann­­-­Interviews in der Neuen Zürcher Zeitung und Lotz’ Arbeit am »Frankfurt-Vortrag« über das Stottern. Es wird ausgiebig gehasst, unter anderem »das Buch­preis­gequatsche«.

Nichts liegt Lotz allerdings ferner als konventioneller dokumentarischer Realismus. Einerseits erklärt er im Gespräch mit Albert Henrichs von seinem ­Verlag S. Fischer, seine »Heilige Schrift I« sei »Notwehr« gegen die reale Erfahrung, durch den Umzug in die französische Provinz mit dem Trauma seiner Jugend auf dem Dorf konfrontiert zu werden. Er habe sich strikt daran gehalten, Aufzeichnungen weder zu löschen noch zu bearbeiten oder zu formen. Andererseits zeigt Lotz’ Text permanent, dass er Literatur ist, und eben gerade nicht ungefilterte Dokumentation der Wirklichkeit. Das beginnt mit dem Titel des Buchs und führt über Figuren wie »E«, »O« und »N«, Kinder und Partnerin des ­Autors, zu anderen literarischen Gimmicks. Viele Notizen sind — Gedichten ähnlich — innerhalb der Zeile gebrochen: »Toast/ mit/ Marmelade«. Dann die beständig eingestreute Großbuchstaben-Schreibung: »das Gefühl, ich schreibe den Dingen HINTERHER«.

Wer das Spiel, den Blick durch das Schlüsselloch einer Schriftsteller-Wohnung und metafiktionale Reflexion mag, wird an ­diesem Buch Freude haben. Zum Virtual-Reality-Journalismus Ben C. Solomons notiert das Ich gewissermaßen das Programm der »Heiligen Schrift I«: »Der Rezipient hat das Gefühl tatsächlich mittendrin zu sein// IST ER ABER NICHT, PUNKT«.

Wolfram Lotz: »Heilige Schrift I«
S. Fischer, 912 Seiten, 34 Euro

Lesung

stadtrevue präsentiert:
Fr 10.2., King Georg, 21 Uhr