Genau hingeguckt: Was bekommt man im Kino nicht geboten? © Charades

Etwas Besseres als Unterhaltung

Das Ranking der hundert besten Filme aller Zeiten in der Filmzeitschrift Sight & Sound hat Diskussionen ausgelöst. Sie spiegeln sich auch im Programm der »Fantasy Filmfest White Nights« wider

Im vergangenen Dezember veröffentlichte die britische Fachzeitschrift Sight & Sound das Ergebnis ihrer regelmäßig durchgeführten Umfrage zu den besten Filmen aller Zeiten. Ausgerechnet die »Fantasy Filmfest White Nights« bieten reichlich Gründe, sich mit den Diskussionen darüber zu beschäftigen. Sight & Sound steht natürlich immer noch für das Hehre, Gute, Wahre im Kino. Während es das »Fantasy Filmfest« einfach krachen lassen will — mit Horrorfilmen und einem zum Exzess tendierenden Programm, also mit populärer Kost. Und damit ist man schon bei den ineinander verdrehten Strängen des Sight & Sound-Disputs angekommen. Die Frage lautet: Was ist im Kino noch populär?

Die Sight & Sound-Bestenliste des im heutigen indischen Bundesstaat Karnataka geborenen Autorenfilmers Koduri Srisaila Sri Rajamouli sorgte jedenfalls für spöttische Bemerkungen. Sie enthält zum größten Teil Breitenwirksames aus dem vergangenen halben Jahrhundert: Robert Zemeckis’ »Forrest Gump«, Roger Allers und Rob Minkoffs »König der Löwen«, John Stevenson und Mark Osbornes »Kung Fu Panda« sowie Quentin Tarantinos »Django Unchained«. Dazu zwei Filme von Mel Gibson: »Braveheart« und »Apocalypto«. Der Kino-Historie erweist Rajamouli mit zwei Religions-Spektakeln Reverenz: Kadiri Venkata Reddyss »Māyābajār« von 1957 und Wiliam Wylers zwei Jahre älteren »Ben-Hur«.

Rajamouli hat sicher ohne Kalkül das gewählt, was ihm tatsächlich gefällt. Es passt zu seinem Schaffen, wenn auch das eigene Œuvre gestalterisch einfallsreicher als die meisten seiner Favo­riten ist. Seine Auswahl hat eine Grundsatzdiskussion ausgelöst: Können Filme einer Bestenlisten würdig sein, wenn sie auf ein großes Publikum abzielen, dessen Gefühle ansprechen? Oder ist wahre Filmkunst das, was sich Vereinzelte im nahezu leeren Saal zu Gemüte führen?

Muss man sich unbedingt durch Chantal Akermans Feminismustheorie-schweren »Jeanne Dielman, 23 Quai du commerce, 1080 Bruxelles« aus dem Jahr 1975 quälen? Immerhin steht der Film auf dem ersten Platz des Sight & Sound-Polls — eines Rankings, das vor allem von Menschen erstellt wurde, die es lächerlich zu finden scheinen, wenn man sich im Kino vergnügt. Chantal Akerman hat, das sei erwähnt, einige Genrefilme gedreht, Musik-Komödien, auch einen Abenteuerfilm. Doch dieser Teil ihres künstlerischen Outputs wird gemeinhin am Rande diskutiert, wenn überhaupt. Akerman darf wohl keinen Spaß machen.

Kurioserweise weist das diesjährige Programm der »Fantasy Filmfest White Nights« mit seinen de-genrefizierten Genrefilmen in dieselbe Richtung. Dort laufen Filme mit Serienproduktions-Oberflächen, deren Konfektionswarenhaftigkeit mit Originalitätseffekten kaschiert wird: Es soll aussehen wie Unterhaltung — aber etwas Besseres sein. Im Prinzip spiegelt das Verbraucherverhalten des Fantasy-Filmfest-Publikums eine allgemeine Entwicklung wider. Kino hat aufgehört, Alltag zu sein und muss dauernd Hochleistung zeigen, so wie Oper oder Theater. Die Musealisierung des Kinos, die von einigen herbeigeredet wird, ist längst Wirklichkeit. Jedenfalls als Marktrealität in unseren kulturellen Breiten.


Die Musealisierung des Kinos, die von einigen herbeigeredet wird, ist längst ­Wirklichkeit

Jukka-Pekka Valkeapääs »Hit Big« bei den White Nights ist ein perfektes Beispiel. Dem grell-hysterischen Film noir mangelt es an grimmiger Gelassenheit. Schließlich muss es permanent abgehen, damit man was für sein Geld geboten bekommt. Ähnliches gilt für Kim Hong-suns »Project Wolf Hunting«. Das Action-Kammerspiel auf einem Frachter eskaliert zum Gewaltexzess. Es zählt weniger die Geschichte, die wie bei den meisten Filmen aus Südkorea, die hier im Kino laufen, überkonzipiert und unterdurchdacht wirkt — eher wie eine Absichtserklärung.

Alberto Rodriguez »Prison 77« veranschaulicht die Komplexität des Problems. Die Geschichte der Freundschaft zweier Gefangener im post-franquistischen Spanien ist ein recht kleines Projekt. Daher muss es mit einer gewissen Bugwelle daherkommen, weil man es ansonsten übersehen würde. Rodriguez kann sich die Bescheidenheit, die den Film in seinem Inneren auszeichnet, nach außen hin nicht leisten.

Ein anderer Fall ist Joko Anwars formidabler »Satan’s Slaves 2: Communion«. Eine Satanismus-Plotte wird zur Allegorie der indonesischen Politik der vergangenen fast siebzig Jahre: Die Gesichter ändern sich, die Korruption bleibt. Indonesien hat eine der produktionsstärksten Horrorfilmkulturen der Welt. Das ist das Umfeld, in dem sich »Satan’s Slaves 2: Communion« bewegt und dessen Motiv-, Plot-, Bildkultur Joko Anwar klug variiert. Wenn man die eine oder andere dieser oft feinen Fließbandarbeiten bei einer Veranstaltung wie dem Fantasy Filmfest zeigen würde, gäbe es heute noch ein Publikum, das sich auf das Abenteuer in sich ruhender Konfektion ohne großen PR-Wasserkopf einlassen würde. So wie vor einem Jahrzahnt, als Rajamoulis in Telugu gedrehter »The Fly« im Programm lief und so enthusiastisch aufgenommen wurde, dass der Film danach regulär ins Kino kam. »Tollywood«-Fantasy, die im hiesigen Verleihalltag jenseits eines spezialisierten Kleinabspiels kaum eine Rolle spielt, da man für dieses künstlerische Idiom keine Vergleiche hat. Ein Film, der vor allem Spaß macht, auch wenn sich bei genauerer Betrachtung noch einiges mehr herauslesen lässt.

Es fällt auf, dass genau diese Art von Kino nicht nur in der endgültigen Sight & Sound-Liste unterrepräsentiert ist, sondern auch bei den Fantasy Filmfest White Nights weitgehend fehlt. Letzteres erscheint eher überraschend, aber um es zu ändern, müsste man sich von den gängigen Vertriebsstrukturen lösen und fragen: Was bekomme ich hierzulande im Kino alles nicht geboten? Was könnte es sonst noch geben? Muss man die Jakarta Post lesen, um zu erfahren, dass es in der Türkei eine gerade explodierende Low-Budget-Horror-Produktion gibt, weil Genre-Hasardeure wie Metin Kuru pro Jahr drei, vier Filme raushauen, die ab und zu sogar Spaß machen?

Was die hysterischen Diskussionen um die Sight & Sound-Top-100 deutlich gemacht haben: Das Kinopublikum und damit auch die Filmkritik sollte wieder lernen, mit dem en masse Geschaffenen kreativ umzugehen. Sonst droht letztlich auch eine Entwertung von Werken wie »Jeanne Dielman«. Dessen Relevanz liegt schließlich in seinem Verhältnis zum Alltag.

Fantasy Filmfest White Nights, Sa, 4.2. + So, 5.2., Residenz Astor Film Lounge, Programm auf fantasyfilmfest.com Die Sight & Sound-Liste findet man unter bfi.org.uk