Revolte in Chile: »Mi Pais Imaginario«

Rezepte für die Zukunft

Beim 25. Dokumentarfilmfest »Stranger Than Fiction« dreht sich alles um die Möglichkeit einer besseren Welt

»Das Programm ist die Feier«. So beschreibt Dirk Steinkühler die Jubiläumsausgabe des Dokumentarfilmfests, das er gemeinsam mit Joachim Kühn veranstaltet. Die Korken knallen also eher im übertragenen Sinn — mit 22 Filmen ist das 25. Stranger Than Fiction umfangreicher denn je. Neben Köln wird es in acht weiteren Städten zu sehen sein.

Wir leben in Zeiten, in denen sicher geglaubte Errungenschaften in Frage gestellt werden. Dies mag der Grund dafür sein, dass viele Dokumentarfilmer*innen jene Generation in den Fokus rücken, die Anlass zu Hoffnung gibt. In »Mi Pais imaginario« erzählt der 81-jährige Patricio Gúzman die Geschichte der Revolte chilenischer Student*innen. Sie begann 2019, als in der Hauptstadt Santiago de Chile die Preise für die Metro erhöht wurden. Im vergangenen Jahr gipfelte sie in der Wahl über eine neue und visionäre Verfassung — vor allem getragen von jungen Frauen. Auch wenn die Abstimmung verloren ging, betont der Film: Eine bessere Zukunft ist möglich. »Wir haben in der Vergangenheit immer wieder Filme von Gúzman gezeigt. Dass wir mit ihm das Festival eröffnen, darf als Statement verstanden werden«, so Steinkühler.

Die nachkommende Generation begriff auch Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Hoffnungsträger, als er in den 60er Jahren bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen junge Staatsanwälte um sich scharte, um Nazi-Verbrecher ins Gefängnis zu bringen. Doch noch bis vor wenigen Jahren wurden Mitwirkende an den Massenmorden in den Vernichtungslagern an deutschen Gerichten regelmäßig freigesprochen. Der Grund: Jedem Angeklagten musste eine konkrete Schuld an einer Tötung nachgewiesen werden. Erst seit einigen Jahren folgen Gerichte Bauers Auffassung, dass auch ein Wachmann oder eine Sekretärin sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Den sich über siebzig Jahre hinziehenden Justizskandal dokumentieren Isabel Gathof und Cornelia Partmann mit »Fritz Bauers Erbe — Gerechtigkeit verjährt nicht«. In Gesprächen mit Überlebenden, mit deren für Gerechtigkeit streitenden Kindern und Enkel*innen sowie mit Jurist*innen wird deutlich, dass es keineswegs beschämend ist, wenn greisen und gebrechlichen Täter*innen heute der Prozess gemacht wird. Der Skandal geschah in den Jahrzehnten davor.  


Der Eröffnungsfilm darf schon als Statement verstanden werden
Dirk Steinkühler

Auch in der europäischen Flüchtlingspolitik scheint die Justiz politischen Interessen zu folgen. Das zeigt Lennart Hüpers »Nichts Neues« in der Reihe »Dokumentarfilme aus NRW«. So ließ ein maltesisches Gericht das Seenotrettungsschiff Lifeline monatelang festsetzen, vorgeblich wegen Unklarheiten bei der Registrierung. Hüper hielt die zer­mürbende Zeit des Stillstands und das Durchhaltevermögen der engagierten Besatzung fest. In Köln ist er bei der festlichen Verleihung des Lew-Kopolew-Preises an den Lifeline-Kapitän Claus-­Peter Reisch dabei. Die Politiker*innen spenden Applaus, während Reischs Arbeit zugleich durch die restriktive EU-Flüchtlingspolitik unterlaufen wird.  Wie Lennart Hüper wird auch Offer Avnon als Gast beim Stranger Than Fiction anwesend sein. In »Der Rhein fließt ins Mittelmeer« reflektiert Avnon von Haifa aus seine Zeit in Deutschland. Zudem stellt Reiner Holzemer sein starkes Schauspielerporträt »Lars Eidinger — Sein oder Nichtsein« persönlich vor.

»She Chef« von Melanie Liebheit und Gereon Etzel bestätigt mal wieder, dass auch Küchen filmreife Protagonist*innen hervorbringen. Vegetarier*innen sind Idioten, der ideale Gast hat null Intoleranzen, und wer sein Menü gänzlich ungesalzen verlangt, möge bitte einen Bogen um Top-Restaurants machen? Diesbezüglich gibt es kaum eine zweite Meinung in der dicht gedrängten und von Männern dominierten Welt des professionellen Kochens. Agnes begibt sich als frisch gekürte Junioren-Kochweltmeisterin mit einem Rucksack voller Fleischmesser auf Wanderschaft durch Europas Spitzengastronomie. Sie möchte irgendwann was Eigenes machen, mit Arbeitszeiten, die auch ein Privatleben zulassen. Aber noch will sie lernen und bleibt unvorhergesehen auf den Färöern hängen. »She Chef« ist ein aus unmittelbarer Nähe und mit erstaunlicher Offenheit gedrehter Film über die Diskrepanz zwischen Ist-Zustand und Vorstellungen von der Zukunft. Letztere sind beim diesjährigen Stranger Than Fiction das Salz in der Suppe.

Stranger Than Fiction #25 — ­Dokumentarfilmfest, Fr, 27.1.–So, 5.2., in Köln, Münster, Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Brühl, Duisburg, Essen, Mülheim a.d.R., ­strangerthanfiction-nrw.de