Ausloten der Tiefe: Etienne Nillesen bei der Arbeit; © Steve Bauch

Kreise, Räume, Töne

Etienne Nillesen braucht für seine schillernden Klangwelten nur die Snare-Trommel

»Silver Streetcar for the Orchestra« heißt das knapp 20-minütige Stück, das Alvin Lucier 1988 notierte. Der Titel führt zunächst in die Irre: Wir hören nämlich kein Orchester, sondern nur eine Triangel, die, das gibt Lucier in seinen Aufzeichnungen vor, der Spieler kontinuierlich und auf sich langsam verändernde Weise anschlägt. Wer jetzt schmun­zelt, wird beim Hören des Stückes aus dem Staunen nicht mehr ­herauskommen. Denn Lucier erschließt uns ein Klanguniversum, in dem die Obertöne schillern und schimmern und ständig neue ­dynamische Formen annehmen. Geradzu orchestral.

»Das Stück hat mein musika­lisches Leben um 180 Grad ­gedreht«, sagt Etienne Nillesen. »Diese Reduktion… ganz simple Bewegungen, das Ausharren in der Wiederholung, dann diese klangliche Öffnung, die Obertöne, die schwingen und ganz überraschende Harmonien ergeben.

Was für ein Training für das Ohr! In diesem Stück habe ich meine eigene Herangehensweise entdeckt: supereinfache Bewegungen, die zu komplexen Resultaten führen.« Es wäre natürlich zu ­einfach, ­Nillesens Kunst auf diese ­Inspiration zu reduzieren. Er spielt die Snare, nicht die Triangel, er ­arbeitet mit verschiedenen ­Materialien, wendet verschiedene Parameter an, man kennt ihn in Köln aus vielen Gruppen zwischen Jazz und Neue Musik. Aber die Idee der ­Reduktion und Konzentration ist stets zentral für ihn.

Geboren ist sie — scheinbar paradox — aus dem Bedürfnis nach Freiheit und Offenheit. ­Nillesen hat in Arnheim Jazz-Schlagzeug studiert, hat viel in der Amsterdamer Szene gespielt. Aber: »Mich hat damals schon Klang an sich interessiert, nicht unbedingt die energetische Art zu spielen.« Er wollte sich neu orientieren, blickte über die Landesgrenze und entschied sich 2008 für Köln: »In Köln wurde freier ­gedacht«, das war für ihn ausschlaggebend. Die Jazz-Szene, die damals nach langen tristen Jahren der Stagnation gerade erst auf dem Sprung war, wieder zu dem beeindruckenden Faktor in der Kölner Kulturlandschaft zu werden, der sie heute ist, nahm ihn dankbar auf. Nillesen spielte mit den Kollegen aus dem Klaeng-Kollektiv, mit Sebastian Gramss, mit dem Nonkonformisten Norbert Stein. Schließlich traf er auf den Pianisten Philip Zoubek und den Posaunisten Matthias Muche — beides radikale Klangforscher: »Die Begegnung mit ihnen hat ­alles geändert, das sind unfassbar wichtige Leute für mich, sie haben mir eine Musik gezeigt, die ich eigentlich gar nicht kannte.« Die Freundschaft und Zusammenarbeit besteht bis heute.

»Ich habe vor acht Jahren angefangen, Trommeln und Becken im Drum-Set wegzulassen, und seit fünf, vielleicht sechs Jahren spiele ich nur noch die Snare«, ­beschreibt er seine Entwicklung zu immer mikroskopischeren ­Formen. Der Zusammenhang zwischen Ton und Bewegung ist für ihn zentral. Der ist natürlich immer gegeben, aber Nillesen reflektiert ihn explizit, macht ihn zum Hauptgegenstand seines Spiels: Es ist der Übergang zur horizontalen Bewegung, zur Kreisbewegung der Hände und Materialien auf der Snare. Dadurch widmet er die Funktion der Snare um — sie wird zum Klanggenerator. »Ich spiele viel tonales Material, da hat sich herausgestellt, dass eine normale Snare von 14 Zoll Durchmesser nicht so gut funktioniert. Dazu musste ich erst mal ­viele Snares spielen…« Immer noch stehen elf davon bei ihm zu Hause oder im Proberaum herum! »Dann musste ich verschiedenen Felle ausprobieren, verschiedene Tiefen der Trommeln. War für eine Suche! Ich habe schließlich herausgefunden, dass 15 Zoll optimal sind. Bei 14 Zoll kriege ich drei gepitchte Töne heraus, bei 15 zwei mehr.« Mittlerweile spielt Nillesen eine Snare, die der italienische Instrumentenbauer Adrian Kirchler für ihn individuell angefertigt hat.

Das alles bliebe nette Spielerei, brächte Nillesen nicht die Kreativität mit, daraus eine höchst individuelle, aber strikt aufs Kollektiv ausgerichtete Musik zu formen. Tatsächlich: zu formen. Denn ­seine Klängen wirken skulptural, ­regelrecht greifbar, sein Spiel ist auch visuell beeindruckend. Dabei geht es ihm nicht um eine individuelle, genialische Geste. Sein zentraler Begriff für das Spielen, erst recht für das Miteinanderspielen, ist Ehrlichkeit. »So ehrlich wie möglich Musik machen, das bedeutet, versuchen das zu spielen, wofür ich stehe. Das hat nichts mit meinem Ego zu tun. Ich will nur nicht mehr in eine Rolle gehen als Interpret, nicht mehr in Funktionen denken. Sondern: Das ist unsere Arbeit, und die möchten wir ungeschmälert vorstellen.«

Ich bin mein eigener Zuhörer, kann mich fast schon rausnehmen aus dem Spiel. Der Klang steht im Fokus
Etienne Nillesen

Unsere Arbeit: Damit ist nicht zuletzt das Trio T.ON gemeint. Er spielt hier mit Matthias Muche und dem Kontrabassisten Constantin Herzog. Sie denken, spielen in langen, klaren Bögen. Die Klänge stehen häufig, Bewegungen werden behutsam ausgeführt, ­maximal fokussiert. »Die Rollen sind nicht festgelegt«, sagt Nillesen. »Es geht darum, Klänge zu übernehmen oder Kontrapunkte zu setzen, und das alles in einem nicht-traditionellen Rahmen, die klassische ­Arbeitsteilung der Instrumente, die man aus dem Jazz kennt, interessiert uns nicht. Wir haben die Freiheit, alles anzunehmen, was sich im Zusammenspiel anbietet.«

T.ON schaffen eine Plattform, die unterschiedliche Begegnungen ermöglicht — mit Komponisten elektronischer Musik (auf ihrer letztjährigen CD dokumentiert), mit dem Raum der Kölner Kirche St.Gertrud, oder demnächst im Stadtgarten mit den New Yorker Duo RAGE Thormbones. Dass sich T.ON dabei nicht verzetteln, liegt an ihrem vertrauten Umgang miteinander. »Wenn wir spielen, ist eine Klarheit da, die nicht weiter diskutiert werden muss. Die Aktionen im Spiel erklären sich aus sich selbst, das rührt aus der jahrelangen Zusammenarbeit, unserem ständigen Austausch.«

Die Suche nach der Reduktion geht weiter — konsequent landet Nillesen beim Solo-Spiel, das dieses Jahr für ihn im Fokus stehen wird. Auch hier wieder seine charakteristische Arbeitsweise: Ein möglichst einfaches Material wird definiert, eine klare Struktur, die Nillesen aber die Aufmerksamkeit lässt, sich auf jeden Raum, jeden Spielort neu einzulassen. »Eigentlich benutze ich nur zwei Sachen«, führt er aus. »Die erste: kleine und größere Kreise auf der Snare. Ich kann dabei zwei Töne gleichzeitig spielen, mit der rechten und der linken Hand.  Die zweite: Ich nehme einen Schläger, einen harten fürs Vibrafon, und spiele einen Pattern.« Und dann brauchen wir nur noch zuzuhören — ohne Erwartung, ohne besondere Haltung. »Je länger ich spiele, je mehr ich mich bewege, desto mehr hört man die Obertöne und wie sie sich verändern, neue Harmonien ergeben. Da ist Swing drin!«

Tonträger: »T.ON plays La Berge/ Greenstone/ Pluta/ Wooley« (2022), »T.ON plays Muche/ Herzog/ Nillesen« (2023), beide auf Impakt erschienen, impakt-koeln.bandcamp.com