Demut und Pose vereint: Serhij Zhadan; © Ekko Schwichow / Suhrkamp

Demütiger Popstar

In Deutschland wird Serhij Zhadan vor allem als Chronist des Ukraine-­Kriegs wahrgenommen. Sein Werk erzählt jedoch mehr: die Geschichte einer Generation post-sowjetischer Literatur

»52 Sekunden«, sagt Serhij Zhadan und seine Übersetzerin Claudia Dathe dolmetscht neben ihm auf der Bühne, »52 Sekunden benötigen die russischen Raketen von Belgorod bis nach Charkiw.«

In Charkiw, rund 40 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt, lebt der Schriftsteller seit Jahren. Er streicht sich die graublonde Tolle zur Seite, der Undercut ist kurzrasiert, über der Bühne fassen rote Backsteinbögen die hohen Kirchenfenster der Lutherkirche ein. Samstag Abend, Anfang Dezember, in Nippes in der Kulturkirche.

In Isjum habe man unter den Exekutierten in den Massengräbern kürzlich auch einen befreundeten ukrainischen Dichter gefunden, erzählt Zhadan. Dann liest er Texte aus »Himmel über Charkiw« und Gedichte aus seinem letzten Band »Antenne«, im ukrainischen Original 2018 erschienen, in der deutschen Ausgabe um den Band »Schiffsverzeichnis« ergänzt. In Zhadans jüngster Lyrik geht es kaum einmal explizit um den Krieg. »Es geht vor allem um Einsamkeit. / Um das Lied des Fahrstuhls / in der Kehle des Hausflurs«. Seine Poesie sucht die Romantik und das Pathos — ein leichtgewich­tiges allerdings —, das an Rilke und Celan denken lässt.

Zhadan, in Deutschland vor ­allem als Schriftsteller im Krieg populär, war lange Jahre Dichter, bevor er Erzählungen und Romane schrieb. Mit 17 legte der Frühreife seinen ersten Gedichtband vor, zahlreiche folgten. Im Umfeld des legendären Charkiwer Slowo-Hauses, dem Haus des Wortes, war Zhadan ein Vernetzter und Vernetzer. 2021 erschien gemeinsam mit Yuriy Gurzhy das Album »Fokstroty«, das elektronischen Sound um Texte führender Au­tor*in­nen des ukrainischen Futurismus der 1920er Jahre baut, der Anfang der 30er Jahre den stalinis­tischen Säuberungswellen zum Opfer fiel.

Im 2003 erschienenen Gedicht­band »Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts« arbeitete Zhadan mit dem Fotografen Vladyslav Getman zusammen. ­Fotos von Szenerien im Wien der Jahrtausendwende kommentieren die Gedichte, die Zhadan ebenfalls in Wien schrieb. In »Nichtkommer­zielles Kino« erinnert sich ein lyrisches Ich »um die dreißig (…) in ­einer alten europäischen Hauptstadt (…), gefüllt mit frischem Emigrantenfleisch«, von einem Foto ausgehend an die eigene Geschichte. »Und die Gleichaltrigen, / die du nicht kennst, über die Kontinente verstreut, gehen jetzt, wenn sie nicht / an Kommunismus und Syphilis gestorben sind, der Geschichte ihres Landes an die Gurgel, / wollen ihm seine schändliche Kapitulation nicht verzeihen«. Zhadans Dichtung ist hier noch äußerst narrativ, kolloquial im Tonfall, teils geschwätzig. Aber die religiös konnotierte Bildlichkeit von existenziellem Tiefgang ist schon hier angelegt: »denn was ist der Himmel, wenn nicht ein System / aus Spiegeln, so angeordnet, daß man / nichts erkennen kann«.

In »Depeche Mode«, Zhadans erstem Roman, pendeln die jungen Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan noch mit dem Zug aus Charkiw ins russische Belgorod. Sie kaufen in Russland kistenweise Wodka — und verkaufen ihn auf dem Charkiwer Bahnhof teurer, um sich Geld zu verdienen. Sie hören denkwürdige Radiosendungen über die ­angeblich »irische Musikgruppe« Depeche Mode und in der zweiten Hälfte des Romans begeben sie sich auf der Suche nach ihrem Freund Zündkerze auf einen Trip in den Osten Charkiws, über Tschuhujiw und Kinzewa nach Kupjansk-Wuslowyj. Es ist ein anarchisches, wildes Erzählen, dem nicht immer zu glauben man angehalten wird, das Konventionen sprengt. Zhadans Figuren sind schräge Typen, die saufen, prügeln und beleidigen, noch bis im 2014 veröffentlichten »Mesopotamien«, einer Liebeserklärung an Charkiw. Sie verstricken sich in windige Geschäftsmodelle und Korruption, wie in »Hymne der demokratischen Jugend« von 2006 und »Die Erfindung des Jazz im Donbass« von 2010.

Aber sie haben ihr Herz am rechten Fleck. Nie stellt dieser Schriftsteller seine Figuren bloß, bei Zhadan ist das Rohe zärtlich. Grenzüberschreitung und Rücksichtslosigkeit — oder Flucht in die westeuropäischen Hauptstädte wie im 2003 erschienen Prosadebüt »Big Mac« — sind seinem Personal Strategien des Überlebens unter der historischen Hypothek einer konformistisch-kollektivis­tischen Diktatur. Von den frühen Gedichten bis in die spätere Prosa ist sein Werk unterspült von der historischen Tiefenströmung des Zusammenbruchs der Sowjetunion, den der autokratische Diktator Wladimir Putin schon 2005 als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnete. »Den Trip meiner Protagonisten aus ›Depeche Mode‹«, sagt Zhadan in der Lutherkirche in Nippes, »kann man heute nicht mehr machen, die Orte der Route sind größtenteils zerstört.«

In seinem letztem Roman ­»Internat« von 2017 kommt der Krieg über seine Figuren. Sabine Stöhr und Juri Durkot, neben Claudia Dathe und Esther Kinsky die Übersetzer*innen Zhadans, haben ihn glänzend ins Deutsche übertragen. Pascha, der Ukrainisch-­Lehrer, holt seinen Neffen aus dem Internat nach Hause. Drei Tage lang irren die beiden durch ostukrainisches Kampfgebiet. Soldaten, die sich anbrüllen wie Kinder, doch »Kindern kommt kein Blut aus den Ohren, denkt Pascha und versteht plötzlich. Sie sind taub. Knalltrauma.« Am verstörendsten an diesem Buch ist aber seine kalkulierte Ver­unsicherung, auf wessen Seite die Soldaten und Zivilist*innen stehen, denen die beiden Protagonisten begegnen, und wessen Fahnen auf den Dächern wehen. Der Roman interessiert sich nicht für ­Anklage und Urteil. »Internat« ist ein Buch von radikaler Menschlichkeit, das allein die existenzielle Situation des Menschen im Krieg bebildern will, mit allen Uneindeu­tigkeiten und Ambivalenzen. Hier und in den Gedichten aus »Antenne« findet Zhadan zu einer Sprache, die über den Krieg hinausweist, indem sie die Eindeutigkeit verweigert, mit der man von Freund und Feind spricht.

Nach dem letzten Gedicht aus »Antenne« brandet Applaus durch die Luther-Kirche. Zhadan nimmt seine Übersetzerin Claudia Dathe in den Arm und verbeugt sich, hält die aneinandergelegten Handinnenflächen zum Publikum. In der Umbauphase spricht man Ukrainisch in den Kirchenbänken. Dann wird das Licht gedimmt, gejubelt, und Zhadan i Sobaky betreten die Bühne, die siebenköpfige Ska-Rock-­Band um den Schriftsteller, Übersetzer, humanitären Helfer und Sänger Serhij Zhadan. Smartphone-Bildschirme und die Blitze ihrer Kameras blinken im Kirchenschiff, auf ihn gerichtet, einen demütigen Künstler von Popstar-Format in Kriegszeiten.

Die deutschsprachigen Ausgaben von Serhij Zhadans Büchern sind bei Suhrkamp erschienen.