»Das Ausmaß der Katastrophe wurde in Deutschland nicht verstanden«: Erdbebengebiet in der Türkei; Foto: Pro Humanitate

Das doppelte Beben

Über die Kölner Hilfsaktionen kurz vor den ­Präsidentschaftswahlen in der Türkei

Mit zwei LKW voller Zelte, Decken und Solarlichtern fuhren Gulê Cinar-­Sahin und andere Helfer Mitte Februar in die Türkei. Ziel des Hilfstransports von Pro Humanitate, einem Jugendhilfeverein aus Porz, sowie zwei weiteren Vereinen, waren die kurdischen Gebiete um die Stadt Adıyaman. »Wir haben so viel Zerstörung gesehen. Die Menschen lebten auf den Straßen und überall hing der Geruch von Staub und Leichen in der Luft«, berichtet Cinar-Sahin. Es sei ein Glück, dass sie die Dörfer erreicht hätten. Denn die türkische Regierung habe überall im Land Kontrollpunkte errichtet, an denen sie LKW kontrolliere, Hilfslieferungen beschlagnahme und in die Depots des staatlichen Katastrophenschutzes AFAD bringe. »Ob und wo diese Hilfe dann ankommt, weiß man nicht«, so ­Cinar-Sahin. Sie ist sicher, dass die türkische Regierung bewusst solche Gebiete vernachlässige, in denen viele Kurden, Araber, Christen oder Aleviten leben.

In Köln wird auch sechs Wochen nach dem Erdbeben weiter Hilfe organisiert. Vereine, türkische Gastronomiebetriebe und Schulen sammeln Geld, packen Kartons und veranstalten Benefizkonzerte. Die grüne Vizepräsidentin des Landtags Berivan Aymaz, die selbst Angehörige beim Beben verlor, organisierte mit dem Festkomitee Kölner Karneval eine Spendenaktion. Und doch berichtet der Vorsitzende des Integrationsrats Tayfun Keltek von Enttäuschung. »Das Ausmaß der Katastrophe wurde in Deutschland nicht verstanden«, sagt er. Besonders ärgert ihn, dass es für Erdbebenopfer noch ­immer zu schwer sei, ein Visum zu erhalten, um vorübergehend bei Verwandten in Deutschland unterkommen zu können. Laut Aus­wärtigem Amt wurden bislang rund 4.500 Visa ausgestellt.

»Wo bleibt die große Spendenkampagne im Fernsehen?«, fragt auch Ahmet Sinoplu, Leiter von Coach e.V.. Die Organisation aus Ehrenfeld macht Bildungsarbeit mit Jugendlichen, viele von ihnen türkeistämmig. Einige hätten Angehörige verloren, einzelne Väter seien in die Region gereist, um zu helfen. Sinoplu öffnet zwei große Lagerhallen neben den Räumen des Vereins an der Oskar-Jäger-Straße, darin Kleiderspenden sowie Schallplatten und Kunstwerke, die zugunsten der Erdbebenopfer verkauft werden sollen. Der Verein koordiniert seine Hilfe mit dem türkischen Generalkonsulat in Hürth. Alles müsse abgesegnet werden, weil der staatliche Katastrophenschutz die Hilfen steuere. »Man muss das natürlich gut ­koordinieren«, sagt Sinoplu. »Aber man darf dabei keine zivilgesellschaftlichen Hilfen zerstören.«


Wo bleibt die große Spendenkampagne im Fernsehen?
Ahmet Sinoplu, Coach e.V.

Auch Jabbar Abdullah sammelt Geld. Der Archäologe und Kurator stammt aus Raqqa in Nordsyrien und versucht, Hilfe in die Region Idlib zu schicken. Dies sei kaum möglich, weil die Türkei die Grenze nach Syrien geschlossen hält. Auch die von der Initiative Willkommen in Nippes gesammelten Spenden für Syrien seien nicht durchgekommen, so Jabbar. Das syrische Regime hilft dem von Aufständischen kontrollierten ­Gebiet nicht. »Es kommen auch keine Hilfstransporte aus Ägypten oder Irak durch. Die Menschen ­leben in selbstgenähten Zelten, es gibt keine Medikamente, kein Baumaterial«, so Jabbar. Nun habe auch noch eine Überschwemmung die Weizenernte zerstört. Jabbar hält Kontakt zu einem Freund vor Ort, der Kleidung, ­Bücher, Schuhe aus den Trümmern sammelt und fotografiert. Im Herbst will Jabbar damit eine Ausstellung in Köln organisieren.

Eine Zäsur war das Erdbeben auch für die Katharina-Henoth-Gesamtschule in Höhenberg. Viele Schüler, aber auch Lehrer haben Angehörige verloren. Allein dreißig betroffene Kinder hätten sich an ihn gewandt, berichtet Numan Sarrac, der Geschichte und Philosophie unterrichtet. Für sie hat er eine Sprechstunde eingerichtet. Er selbst habe fünfzig Familienmitglieder verloren, sagt Sarrac. Die Schule schickte eine Hilfslieferung, Familien, die selbst kaum über die Runden kämen, hätten gespendet, Kinder ihr Taschengeld gebracht, so Sarrac. »Anfangs waren die Straßen zerstört, aber inzwischen kommt die Hilfe gut an.« Seine Verwandten seien nun in Zelten, Containern oder bei Familienangehörigen in der Türkei untergebracht. Einen politischen Umschwung durch den Umgang mit der Katastrophe sieht Sarrac nicht. Die Menschen und auch er selbst seien in Trauer.

»Es hat auch ein politisches Erdbeben gegeben«, sagt dagegen der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay. Auch er sammelt mit dem Verein Interkultur Spenden. Der Staat habe spät reagiert, das habe in der Türkei einen Vertrauensbruch verursacht. Laut aktuellen Umfragen liegt die Regierungspartei AKP in wichtigen Hochburgen nicht mehr vorne. Von den Wahlberechtigten, die in Deutschland leben, hat die Erdogan-Partei in der Vergangenheit zwar stets mehr Stimmen bekommen als in der Türkei selbst. Doch Bozay glaubt: »Auch in Deutschland wird die AKP einbüßen.«