Eine neue Erinnerung

Maria Stepanova sucht das Gemeinsame der europäischen und russischen Geschichte

»Als Lyrikerin in dunklen Zeiten arbeite ich wie eine Minenentschärferin«, so Maria Stepanova in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. »Ich grabe die Sprache aus und säubere sie, versuche, ihr eine neue Existenz zu geben.« Stepanova bezieht dies auf Rede­wendungen in der russischen Sprache, die von Krieg und Gewalt handeln, und die seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine eine neue Bedeutung erhalten haben.

Auch das Thema ihres aktuellen Werkes »Winterpoem 20/21«, einer lyrischen Auseinandersetzung mit Exil und Einsamkeit vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, hat durch den Krieg eine andere Bedeutung angenommen. »Mittlerweile funktioniert die Pandemie für mich nicht mehr als Metapher des Exils, dafür ist die Realität viel zu stark und zu nah«, erklärt Stepanova im Anhang des Buches in einem Gespräch mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja. Zurzeit lebt die 1972 geborene russisch-jüdische Autorin, die zu den Unterzeichnerinnen des im März 2022 veröf­fent­lichten Appells russischer Schriftsteller gegen die offizielle Politik des Landes gehört, selbst im Exil in Berlin.

Stepanova erhält 2023 den Leipziger Buchpreis zur Europä­ischen Verständigung für ein Werk, das sich stark auf ein Miteinander der europäischen Kultur, auf das Gemeinsame statt auf das Trennende konzentriert. Dieser Aspekt spielt auch formal in ihrem Werk eine zentrale Rolle. So finden sich in »Winterpoem« zahl­reiche Verweise auf die west- wie osteuropäische Kulturgeschichte, die eine ist für Stepanova ohne die andere nicht zu denken. Im Gespräch mit ihrer Übersetzerin spricht Stepanova im Zusammenhang mit »Winterpoem« sogar von einer »Coverversion« der Schriften Ovids, der sich ebenfalls mit Isolation, Emigration und Exil beschäftigt hat. Wie bereits in ihrem Roman-Essay »Nach dem Gedächtnis« entsteht daraus eine andere Form des Erinnerns, ein trotziger, hybrider und fragiler Blick auf eine russische und europäische Gegenwart, die dem staatlich gelenkten Erinnern na­tionaler Geschichte in Russland eine offene und in die Zukunft ­gewandte Form entgegensetzt.

Erinnerung ist nicht linear, politische Ereignisse verändern den Blick auf das eigene Schreiben und die eigene Literatur: aus dem »20/21« im Titel ihres aktuellen Werkes sei durch den Krieg aus ­einer linearen Abfolge ein »Schwanken zwischen der alten und der neuen Zeit« geworden.

Maria Stepanova: »Winterpoem 20/21«, Suhrkamp, 119 Seiten, 22 Euro