Die Geister, die ich rief

Die Fotografen Nakazato Katsuhito und Thomas Bergner treffen dialogisch aufeinander

Thomas Bergner und Katsuhito Nakazato sind Fotojäger. Ihr Revier sind jene Gegenden, in denen sich der Mensch zurückgezogen hat, um zur Ruhe zu kommen. Auf leisen Sohlen, im Schutze der nächtlichen Dunkelheit, durchkämmen sie die gespenstische Leere verlassener Areale, angetrieben von der Suche nach Bildern.

Die Ausbeute dieser zeitintensiven Streifzüge sind nun in der eindrucksvollen Präsentation »Spectres« (Geister) im Japanischen Kulturinstitut vereint, die im Rahmen der dort regelmäßig ausgerichteten Dialogausstellungen stattfindet — eine Reihe, die dem Austausch zwischen deutschen und japanischen Künstlern gewidmet ist. Thomas Bergner (*1985) studierte an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg, wo er seit 2016 einen Lehrauftrag innehat. Katsuhito Nakazato (*1956) ist Honorarprofessor für Fotografie an der Zokei-Univer­sität in Tokio.

Trotz ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen und Generationen teilen die Künstler die Faszination für die Nacht. In ihr erfahren sie eine neue Welt, eine, in der Fakten ­zurücktreten und die Bereiche der Fantasie freigelegt werden. Die schwachen künstlichen Lichtverhältnisse und die eingeschränkte Sichtbarkeit eröffnen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten. Zu sehen sind Bilder, denen der Zauber einer Zeit der Dunkelheit innewohnt, in der die Gegenstände eine schemenhafte Gestalt annehmen und sich in geheimnisvolle, bisweilen geisterhafte Erscheinungen verwandeln.

Bergner und Nakazato entdecken ihre Sujets während sie die Tagesrealität ausblenden, vertraute Bezugspunkte aufkündigen und sich auf das Unbekannte einlassen, dabei geradezu aus sich heraus treten. Im Gleichschritt ­betreten sie die Grenze zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, Rationalität und Irrationalität.

Für Katsuhito Nakazato entspricht das Warten auf den einen, bestimmten Augenblick in dem Motiv und Moment zusammenfallen, einer Meditation. Für seine ­Serie »Night in Earth« hat der studierte Geologe die Ursprünglichkeit der japanischen Küste erkundet. Seiner Bildfindung geht ein langer Prozess des Eindringens in die Umgebung bis zur langsamen Verschmelzung mit der Natur voraus, dem Übergang in eine andere Bewusstseinsebene gleich. Leere Plätze und irreal leuchtende Hausfassaden in »De Chiricos Schatten« lassen den Bezug zur übersinnlichen Erfahrung erahnen. Diese ­immersive Vorgehensweise prägt auch die in »Tokei« entstandenen Aufnahmen der gleichnamigen Serie. In die chaotischen Strukturen des »alten Tokio«, voller verborgener Winkel und eng verzweigter Gassen, begibt sich Nakazato, um sich zu verirren, sich zu verlieren.


Zu sehen sind Bilder, denen der Zauber einer Zeit der Dunkelheit innewohnt, in der die Gegenstände eine schemenhafte Gestalt annehmen

Auch Thomas Bergners bedingungslose Hingabe an die nächtliche Umgebung bedeutet Kontrollverlust. Bis zu sechs Stunden ist er mit seiner Großbildkamera unter teils widrigen Witterungsbedingungen zu Fuß unterwegs, begibt sich auf die Spur des Unvorhersehbaren und betritt die Sphäre des Unheimlichen. Gewitter, Graupelschauer, Sturmwind, Nebel und Regen verschleiern die Konturen, verschlucken die Umrisse zugunsten malerischer Effekte. Wie ein Regisseur arrangiert Bergner seine unter langer Belichtung entstandenen Einzelbilder zu sinnhaft zusammenhängenden Reihen. Die vorgegebene Bilderfolge erweckt den Eindruck eines räumlich-zeitlichen Kontinuums und Geschlossenheit des Settings. Jedoch wird trotz der schlüssigen Anordnung und subtilen Dramatik eine narrative Lesbarkeit unterlaufen. Nur schwach erkennt man den Darstellungsgegenstand, einen Bretterzaun, ein erleuchtetes Fenster, einen Baum, Reifenabdrücke im Schnee, doch das ­Geheimnis der vermeintlichen Schauplätze wird nicht gelüftet. Diese die Abstraktion berührenden Ausschnitte bleiben offene Orte ohne Verortung. Als motivische Andeutungen bleiben sie einzig dazu bestimmt eine Uneindeutigkeit zu erzeugen.

Den durchlebten Orientierungsverlust überträgt Bergner wirkungsvoll in seine suggestiven Stimmungsbilder, mit denen er auch die Verschleierung des fotografischen Mediums vorantreibt: Nicht der Oberfläche, sondern dem Inhalt soll die Aufmerksamkeit gelten. Tatsächlich verführt der Künstler mit der verhaltenen Tonwertigkeit seiner Ansichten dazu, sich in den Bildraum zu versenken und traumwandlerisch zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu bewegen: dem ­Verborgenen — und sich selbst — stets auf der Spur. 

Japanisches Kulturinstitut, Uni­­versi­täts­str. 98, bis 31.7., Mo–Fr 9–13 Uhr & 14–17 Uhr, Sa 13.30–17 Uhr