Die Perspektive der Betroffenen stärken: Henning Borggräfe

Räume öffnen

Henning Borggräfe, der neue Leiter des NS-Dokumentationszentrums, will Geschichte anschaulich erzählen

So viele Türen gibt es im NS-Dokumentationszentrum, dass selbst der Direktor kurz verwirrt ist. Henning Borggräfe führt durch die oberen Etagen des El-De-Hauses am Appellhofplatz, in dem die Gestapo zehn Jahre ihr Hauptquartier hatte und im Keller ein Foltergefängnis betrieb. Mitte Juni wird das NS-Dokumentationszentrum um zwei Etagen erweitert, und die Türen, die bis 2019 in Dienstzimmer städtischer Ämter führten, öffnen sich nun in Ausstellungsräume. Fast über den gesamten dritten Stock erstrecken sich Zimmer, die einem Bergwerk oder dem Inneren eines Schiffs nachempfunden sind, »wie in einem begehbaren Computerspiel«, so Borggräfe. Dort können Schulklassen ein »Demokratie-Abenteuer-Lernspiel« spielen: Mit einer Gruppe auf einer einsamen Insel gestrandet, müssen die Schüler selbst eine Gesellschaft organisieren. Neu sind auch ein »Junges Museum«, das Kindern ab der 3. Klasse eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ermöglichen soll, und ein Erzählcafé, in dem Schulklassen nach dem Besuch des ehemaligen Foltergefängnisses im Keller das Gesehene reflektieren können. Hinzu kommen drei Räume, mit denen das NS-DOK erstmals sein Programm mit jährlich mehr als hundert Workshops zu Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus im eigenen Haus durchführen kann. Auch Projekte aus der Stadtgesellschaft sollen die Räume nutzen, so Borggräfe. »Wir wollen das Haus noch stärker mit der Stadtgesellschaft vernetzen.«

Der Zeithistoriker Henning Borggräfe ist erst seit einem halben Jahr im Amt; die neuen Angebote gehen noch auf seinen Vorgänger Werner Jung zurück. Borggräfe steht vor der Aufgabe, die 25 Jahre alte Dauerausstellung in den unteren Etagen zu überarbeiten. »Damals gab es noch das Narrativ, in Köln sei wegen des Katholizismus und der Offenheit der Stadt ›alles nicht so schlimm‹ gewesen«, so Borggräfe. Die Ausstellung sei darauf ausgelegt, den Mythos zu entlarven — »mit einer Erzählform, die stark auf zeitgenössisches Material aus der Täterperspektive oder auf Zeitungsartikel zurückgreift«. Man gehe hinaus, »ohne eine Episode im Kopf zu haben, die wirklich mitnimmt oder überrascht.« Die Sehgewohnheiten hätten sich verändert. Statt offizielle Nazi-Dokumente aneinander zu reihen, will Borggräfe die Perspektive der Betroffenen stärken und anhand einzelner Biografien zeigen, was das Leben im Nationalsozialismus, was Verfolgung konkret bedeutete. Mit mehr digitalen Angeboten sollen Besucher auf eigene Faust entdecken können, was sich in Köln abspielte, wo etwa die hundert sogenannten Judenhäuser waren, in denen Menschen vor der Deportation konzentriert wurden; wo sich die Zwangsarbeiterlager befanden.


Wir wollen das Haus noch stärker mit der Stadtgesellschaft ­vernetzen
Henning Borggräfe

Wenn Schulklassen heute das NS-DOK besuchen, hat ein sehr großer Teil der Jugendlichen einen Migrationshintergrund, und der Nationalsozialismus ist oft kein Teil ihrer Familiengeschichte. Trotzdem gebe es viele Anknüpfungspunkte, sagt Borggräfe. Er nennt die Geschichte der Zwangsarbeiter. »Sie wurden zu Hunderttausenden aus Europa herangekarrt und in ein rassistisches Apartheidsystem gezwungen.« Auch sei wichtig aufzuzeigen, wie vielfältig Köln vor der NS-Herrschaft gewesen sei. Borggräfe will das »Besuchserlebnis insgesamt verbessern«. Dazu gehöre mehrsprachige Beschilderungen, Barrierefreiheit und mehr Aufenthaltsbereiche.

Im vergangenen Jahr sahen manche das NS-Dokumentationszentrum in Gefahr, weil sich die Nachbesetzung der Direktorenstelle immer wieder verzögerte und ein Ratsbeschluss von 2021, der »Synergien« zwischen den historischen Museen der Stadt forderte, manche befürchten ließ, dass die Institution ihre Eigenständigkeit zugunsten der neuen »Historischen Mitte« verlieren könne. Diese Gefahr sieht Borggräfe nicht. »Es geht nicht darum, die Erzählungen oder Themen anzugleichen.« Doch stärkere Zusammenarbeit könne sehr sinnvoll sein, etwa beim »Erzählen im Stadtraum«. So hat das NS-DOK bereits mit dem Miqua einen Stadtrundgang zur jüdischen Geschichte entwickelt. »Da wäre es Quatsch, wenn jedes Museum seine eigene technische Lösung für einen Stadtrundgang entwickeln würde.« Koordiniert wird der Prozess vom Museumsdienst. In Zukunft soll die künftige Leitung des Stadtmuseums den Aufbau des Verbundes der historischen Museen und ihre Kooperation organisieren; die Stelle soll in den nächsten Monaten ausgeschrieben werden.

Eröffnungsfest NS-Dokumentationszentrum, Sa 17. Juni, ab 11 Uhr