Viele Stimmen, ein Buch: »Neue Töchter Afrikas«, Foto: Donna Kukama

Viele eigene Geschichten

Die Anthologie »Neue Töchter Afrikas« versammelt Stimmen aus der Diaspora

Manchmal ist man einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. So ging es Christa Morgenrath, als im Oktober 2021 ihr Telefon nicht mehr stillstand. Der tansanische Autor Abdulrazak Gurnah hatte gerade den Literaturnobelpreis gewonnen. Die deutschen Übersetzungen seiner Bücher waren da größtenteils vergriffen. Drei Jahre zuvor war Gurnah bei der Reihe »stimmen afrikas« zu Gast gewesen, die Morgenrath gemeinsam mit Eva Wernecke seit 2009 organisiert. »Viele unserer Gäste sind woanders auf der Welt berühmt«, sagt die studierte Literaturwissenschaftlerin, »aber in Deutschland werden sie kaum wahrgenommen.«

Das gilt auch für Margaret Busby. Die gebürtige Ghanaerin war in den 60er Jahren die erste Schwarze Verlegerin in Großbritannien. Dort ist sie eine bekannte Figur der Literaturszene, was nicht zuletzt ihrer 1992 erschienenen Anthologie »Daughters of Africa« zu verdanken ist, die auf 1000 Seiten mehr als 200 Schwarze Autorinnen aus Afrika und der Diaspora versammelte und so die Vielfalt ihrer Erfahrungen und Geschichten abbildete. Diese inspirierte die Anthologie »Töchter Afrikas« (1994), die Schwarze Autorinnen versammelte, die auf Deutsch schreiben. Aber übersetzt wurde »Daughters of Africa« nie. 2019 veröffentlichte Margaret Busby dann den Ergänzungsband »New Daughters of Africa« — und dieser ist übersetzt worden.

»Das Buch ist ein Schatz«, sagt Christa Morgenrath, »es versammelt auf 1000 Seiten die geballte Frauenpower.« Kurz nach Erscheinen hat sie es auf dem Festival »Stimmen Afrikas: Crossing Borders« zum ersten Mal gesehen und schnell kam ein Wunsch auf: »Wie bekommt man dieses Buch auf den deutschen Markt?« Die Hindernisse waren groß. Anders als auf dem anglo-amerikanischen Buchmarkt gelten Anthologien hierzulande als schlecht verkäuflich, erst recht, wenn sie von afrikanischen Autor:innen stammen. Welcher Verlag wäre unter diesen Bedingungen und in Zeiten steigender Herstellungskosten bereit, ein 1000 Seiten starkes Buchprojekt zu veröffentlichen?

Die kurze Antwort: der Unrast Verlag aus Münster. Die lange: Mit diesen Überlegungen begann ein Prozess des gegenseitigen Lernens und Verlernens. Vier Schwarze Kuratorinnen — die Dramatikerin und Drehbuchautorin Julienne De Muirier, die Performance-Künstlerin donna Kukama, die Spoken-Word-Autorin Emilene Wopana Mudimu, und die Community-Organizerin Glenda Obermuller — stellten gemeinsam mit Morgenrath und Wernecke und in Absprache mit Margaret Busby eine Auswahl von Texten aus dem Original zusammen, bei der sie die Vielfalt von Textformen und geschilderten Erfahrungen und Erzählungen bewahren wollten.  »Der Kurations- und Produktionsprozess hat ein gutes Jahr gedauert«, sagt Christa Morgenrath«, »aber für mich als Weiße Frau war er sehr lehrreich.« Auch die beiden Übersetzerinnen, Aminata Cissé Schleicher und Eleonore Wiedenroth-Coulibaly, stammen aus Schwarzen Communitys und erklären im Nachwort, dass ihnen die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dialekten des Englischen dabei geholfen habe, die deutsche Sprache in ihrer Wider­ständigkeit zu nutzen.

Dreißig Texte versammelt die deutsche Ausgabe von »Neue Töchter Afrikas« auf rund 256 Seiten. »Die Verschiedenheit dieser Autor:innen konterkariert die immer noch verbreitete falsche Annahme über Schwarze Frauen als homogene Gruppe«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft im Vorwort. Dabei bietet der Band Raum für die kleinen Erzählungen, in denen Vielfalt am ehesten ihren Ausdruck findet. Ellen Banda-Aaku erzählt von einem gemeinsamen Abschied: dem von der Wohnung ihrer Großmutter, die ins Pflegeheim ziehen muss; und dem von ihrer Großmutter selbst, der die Demenz zunehmend die Persönlichkeit raubt. Delia Jarrett-Macauley setzt ihr eigenes Bildungserlebnis in Verbindung zu den Kämpfen um Bildung für Frauen im 19. Jahrhundet. Beatrice Lamwaka schildert mit viel Empathie die inneren Konflikte einer Frau, die sich aus Tradition beschneiden ließ und dies in dem Moment als Verstümmelung begreift, als ihr klar wird, dass sie deshalb eventuell die Liebe ihres Lebens verlieren wird. Und die ­guyanische Autorin Andaye er­innert sich an eine lebensbejahende Episode im Leben ihrer guten Freundin Audre Lorde, mit der sie neben der Literatur auch die Krebserkrankung verband. »Die Geschichten schildern eine Form von empowernder Sisterhood, die sich auch in den Momenten zeigt, wo sie von bedrückenden Erfahrungen erzählen«, sagt Christa Morgenrath.


Mit Ernst und Leichtigkeit zugleich wird die oft lächerlich gemachte Frage nach Identität und Zugehörigkeit gestellt

»Neue Töchter Afrikas« zeigt jedoch, dass eine Vielfalt von Geschichten durch eine Vielfalt von Erzählformen besonders zur Geltung kommt. Neben fiktionaler Prosa und klassischen Essays finden sich in dem Band immer wieder Spuren der mündlichen Überlieferung, die in den afrikanischen Kulturen einen größeren Stellenwert einnimmt als in Europa. Und auch die kleinen Formen des schrift­­lichen Erzählens finden ­ihren Platz auf den 256 Seiten: Jay Bernard notiert in Tagebuchform, warum das Archiv für eine queere Person soviel verlockender ist als die gentrifizierte Gegenwart.

Es ist zudem schön zu sehen, mit welchem Ernst und mit welcher Leichtigkeit zugleich in »Neue Töchter Afrikas« die lächerlich gemachte Frage nach Identität und Zugehörigkeit gestellt wird. Zadie Smith erinnert sich ­daran, wie es war, das parochiale Identitätskorsett des Englisch-Seins in den USA abstreifen zu können und sich als Teil in der Vielfalt der Diaspora in einer ­»geschwisterlichen Beziehung jenseits von Raum und Zeit zu ­erkennen. Meine Schwester. Mein Bruder.«

»Was heißt eigentlich Afrikanisch-sein?« fragt dagegen Afua Hirsch in ihrem Text und macht sich dann auf die Suche. Was macht sie, eine Schwarze Britin aus dem grünen Londoner Vorort Wimbledon, afrikanisch? Sind es die Gewürze oder die Kleidung von Ghana, dem Land ihrer Mutter, für das sich diese nie so recht interessiert hat? Kurz nach der Geburt ihrer Tochter will Hirsch ihr diese Kultur nahebringen, reist mit ihr nach Ghana und stellt dort fest, dass es keinen Weg zurück zu einem ursprünglichen Afrika gibt, sondern die Antwort im Stellen der Frage besteht: » Afrikanisch-sein heißt, daran zu glauben.«

In diesen Momenten erinnert »Neue Töchter Afrikas« daran, dass Literatur mehr ist als nur Texte. Sie ist Teil einer unvollendeten Konversation, in der Menschen erst zu dem werden, was sie sind.  

Christa Morgenrath, Eva Wernecke (Hg.): »Neue Töchter ­Afrikas«, Unrast, 256 Seiten, 22 Euro

Lesung: »Afua Hirsch: Was heißt eigentlich Afrikanisch sein?« (Im Rahmen von »African Futures«) Sa 3.6., Rautenstrauch-Joest-Museum, 16 Uhr

stadtrevue präsentiert
Booklaunch »Neue Töchter Afrikas«, Di 20.6., Orangerie, 19.30 Uhr