Schlagzeugspielen ist ein Balance-Akt: Sebastian Winne

»Ich genieße wirklich jeden Schlag auf meiner Snaredrum«

Eine Begegnung mit Sebastian Winne, Schlagzeuger des Rundfunk-Tanzorchesters Ehrenfeld

 

Als Sebastian Winne an diesem Morgen lässig am alten Kassenhäuschen der Flora angelehnt steht, läuft kein Lied. Wo sollte das auch so plötzlich herkommen? Dass jedoch in diesem Moment am besten »Never Let Me Down Again« von Depeche Mode gepasst hätte, verstehe ich erst ein paar Stunden später. Doch von Beginn an.

Frischer als angenommen ist es, die Sonne drückt ihre März-Wärme nur verhalten in die Stadt hinein, als stünde der Frühling noch unaufgewärmt in seinen Startlöchern. Er gehe hier öfter mit seinem kleinen Sohn durch den kleinen Irrgarten an den exotischen Pflänzchen und Bäumchen vorbei, erzählt Sebastian. Die meisten werden ihn aus dem Fernsehen kennen. Da erscheint der gebürtige Kaarster mit seinem Iro nämlich jeden Freitag-Abend ab 23 Uhr in der Satireshow ZDF Magazin Royale. Sebastian spielt Schlagzeug im Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld. Die Pfütze neben der Libanonzeder ist besonders groß, sodass wir sie weiträumig umgehen müssen. Mit Allüren habe er nichts am Hut, ruft er, während er gekonnt durchs trockene Gras tippelt. Seine Körperbalance, die hat er unter Kontrolle. Soviel steht fest. Überhaupt das Ding mit der inneren und äußeren Balance, das habe schon immer einen wichtigen Stellenwert in seinem Leben gehabt, gibt Sebastian zu. Aber: Es bleibt bei dieser Andeutung. Zunächst zumindest.

Es gibt ein modernes Wort im deutschen Sprachgebrauch, das verwenden vor allem junge Menschen ganz gerne mal, wenn sie zum Ausdruck bringen wollen, wie überraschend gut sie sich von Beginn an mit jemandem verstehen. »Wir sind connected«, sagen sie dann. Connected, ja, das passt wie die Faust aufs Auge, um zu beschreiben, wie es mit Sebastian ist. Man ist connected mit ihm. Sofort. Nun mögen Umstände wie das selbe Baujahr, das niederrheinische Gemüt und eine ähnlich musikalische Sozialisierung das Connected-Sein durchaus begünstigen: Na klar, der Jahrgang 80 ist nun mal ein ganz besonderer, und na klar, als kleiner Bub der 80er Jahre zwischen trockenen Stoppelfeldern, Zuckerrüben und riesigen Erdlöchern mit schönen Namen wie Garzweiler I oder Garzweiler II aufzuwachsen, prägt einen ungemein. Aber Stoppelfelder, Zuckerrüben und riesige Erdlöcher waren nicht mehr genug. Irgendwann. Auch der heranwachsende Sebastian merkte das. Da blieb er einfach zuhause, hockte sich vor die Glotze und schaute: MTV. Eric Clapton, The Police, ­Depeche Mode und übrigens auch Phil Collins waren ab da an geiler als jede Rübe. Vor allem Letzteren habe er anfangs mit Töpfen und Kochlöffeln versucht nachzuahmen, lacht Sebastian und kann es kaum glauben.

Hier hätte seine Geschichte enden können, so wie sie bei vielen anderen endet. Das Geheimnis  der meisten Fortsetzungen sind erfahrungsgemäß Eltern, die ihr Kind wahrnehmen, es verstehen und es schließlich subsidiär unterstützen, sodass es sich entfalten kann. Oder anders ausgedrückt: coole Mamas und Papas.

Sebastians Eltern waren cool und meldeten ihn an der Kaarster Musikschule an. »Leo«, so nennt er seinen ersten Schlagzeuglehrer Leonard Gincberg mit ruhiger Stimme, der habe ihn irgendwann ganz schön gefordert, grinst er. Was er nicht weiß: Einen Abend zuvor habe ich mit Gincberg etwa eine Viertelstunde lang über ihn gesprochen. Am Telefon. Ganz entspannt. Weil Gincberg einfach ein entspannter Typ ist. »Das erste Mal kam Sebastian mit sechs ­Jahren zu mir. Das letzte Mal mit achtzehn«. Der Stolz in Gincbergs Stimme eilt seinen Worten beinahe voraus. Verständlicherweise. War Sebastian für ihn schließlich von Anfang an das Ausnahmetalent schlechthin. Mittlerweile ist aus dem sechsjährigen Talent
aus Kaarst einer der gefragtesten Schlagzeuger in der deutschen Drummer-Szene geworden, der mit dem Jazz-Crossover-Trio Three Fall die halbe Welt bereiste und Meisterklassen am ArtEZ-Konservatorium in Arnheim, an der Music Academy Qatar und am Xinghai-Konservatorium in Guangzhou unterrichtete.

Einbilden könnte er sich etwas darauf. Verständlicherweise. Macht er aber nicht. Stattdessen scheint er noch immer überrascht von seinem beruflichen Schicksal zu sein. »Früher als Kind und ­Jugendlicher war das Schlagzeugspiel einfach mein Refugium«, sagt er und schaut dabei nachdenklich raus auf die Garthestraße. Mittlerweile sitzen wir im gemütlichen und gottverlassenen Café Vilena. Nur ein außerordentlich hübscher Pomeranian schlängelt sich ab und zu um Sebastians Beine. Mich lässt er in Ruhe. »Refugium?« — »Ja, beim Trommeln konnte ich vom stressigen Alltag abschalten und einfach Ich sein«, fährt Sebastian fort. Das, was eine halbe Stunde zuvor noch bloße Andeutung gewesen ist, wird zu einem Elefanten im Raum. Und wegschieben kann man so einen ­bekanntlich nicht so leicht. Da braucht es schon etwas mehr Geschick. Etwas mehr Gespür. Sebastian besitzt von beidem viel und stupst den Riesen schließlich sanft, aber direkt an: »Früher als Kind war ich hyperaktiv.« Dass er in seinen ersten Lebensjahren schon immer etwas anders als die anderen gewesen sei, fiel noch nicht mal ihm selbst, eher seinem Umfeld auf. Die Schule, die sei dann vor allem in der Pubertät der absolute Horror gewesen, schießt es aus Sebastian heraus. An Konzentration sei nicht zu denken gewesen. An einen Umgang mit dem System ›Leistungsgesellschaft‹ erst recht nicht. Während sich seine Mitschüler um ihn herum immer klarer in der Banklehre, im dualen Studiengang oder an der Universität sehen konnten, sah Sebastian nicht schwarz. Sondern seine Schlagzeugnoten, und Leo.

»Gott sei Dank. Denn wer weiß, was ohne ihn, das Schlagzeug und die Unterstützung meiner Eltern aus mir geworden wäre«, sagt er und schaut wieder nachdenklich raus auf die Garthestraße. Der Elefant ­jedenfalls ist am Käsekuchen vorbei nach draußen stolziert, und niemand hat es gemerkt. Nur der Pomeranian schaut etwas verdutzt in den Raum hinein. »Never Let Me Down Again« läuft da immer noch nicht im Café, sondern nur so ein bisschen Allerwelts-Jazz. Songs kommen eben, wann sie es wollen.

In den letzten Jahren vor ­seinem Fachabi sei dann »Üben, üben, üben« Sebastians Motto ­gewesen. Freunde habe er nicht übermäßig viele gehabt, dafür gute. Und der Besuch einer Diskothek habe ihn damals mehr gestresst als ihm gut getan. »Daher passte das alles schon irgendwie«, resümiert er. Ab und zu noch trottet der Elefant trompetend an ­unserem Fenster vorbei. Dass der ­Begriff der Hyperaktivität von den entsprechenden Fachbereichen so schon länger nicht mehr verwendet wird und in diesem Zusammenhang eher von ADHS die Rede ist: egal. Zwar wird ADHS mittlerweile in der Gesellschaft immer stärker als eine ernstzunehmende Diagnose wahr- und angenommen, eine wirkliche Lobby, die hat diese Abweichung vom Neurotypischen Krankheit allerdings noch nicht — konstatieren wir und brechen auf in Richtung Studio. Das möchte mir Sebastian unbedingt noch zeigen. In dem habe er nämlich in Zeiten des Lockdowns viel gearbeitet, viel herum-experimentiert, viel nachgedacht über das, was er musikalisch eigentlich wirklich machen will, ja, was er musikalisch fühlt. »Ohne meine Stipendien, die noch weiterliefen, wäre diese harte Zeit noch um ­einiges härter geworden«, gibt er zu. So aber konnte er sich eigenen Ideen zuwenden und seine Beats mit atmosphärischen Synthie-Klängen verbinden. An die Öffentlichkeit mit seinem »Baby« ist er noch nicht gegangen, dafür sei es noch viel zu wenig ausgereift.

Sebastian ist ein Perfektionist, das muss man wissen. Das kann man auch sehen. Liegen seine zahlreichen Snaredrums doch sorgfältig aufbewahrt in einem offenen Regal. Fehlen eigentlich nur noch die kleinen Preisschildchen, dann könnte man in Versuchung kommen. Apropos: Seiner aktuellen Snare — eine Noble & Cooley Classic Maple Piccolo Piano Black — konnte er irgendwann auch nicht mehr widerstehen. Auf die habe er gefühlt schon sein halbes Schlagzeuger-Leben gespart. Vor kurzem habe er sie vergleichsweise günstig käuflich erwerben können, ­erzählt er stolz. Phil Collins hat sich mithilfe dieser Snaredrum in den 1980ern regelrecht zur Legende getrommelt. »Ich ­genieße ­wirklich jeden Schlag auf ihr.«

Wenn Sebastian das so sagt, wäre man gerne das Schlagfell seiner Noble & Cooley. Aber nichts da, ein paar Minuten später sitze ich brav in der Straßenbahn und ziehe meine Kopfhörer über. Dann singt Dave Gahan »I’m taking a ride with my best friend«. Ja, so ähnlich fühlte es sich die letzten drei Stunden an mit Sebastian.