Do it yourself: Filmsets in der Alten Dreherei in Mülheim an der Ruhr

Perfektion ist langweilig

In Mülheim an der Ruhr hat Michel Gondry seine Home Movie ­Factory aufgebaut — ein Ortsbesuch

 

»Kaninchen-Ausstellung« steht auf einem etwas ramponierten Schild am Eingang zur Alten Dreherei in Mülheim an der Ruhr. Doch im Inneren des imposanten Industriedenkmals aus der Gründerzeit, in dem früher Lokomotiven und Güterwagen gewartet wurden, findet man keine hochgezüchteten Nager, sondern gleich ein ganzes Dutzend Filmsets. Gleich links am Eingang begrüßt einen eine nachgebaute Videothek, gegenüber die Kulisse eines Zugabteils, dessen Fenster durch Bildschirme ersetzt wurden, auf denen eine Landschaft vorbeizieht. Eine ganze Wohnung ist aufgebaut mit Schlafzimmer, Wohnzimmer und einer Küche, in der man durch ein Loch in der Wand sogar aus dem Inneren des Kühlschranks filmen kann. Ein Fernsehstudio liegt gegenüber einer Arztpraxis, die sich mit ein paar Handgriffen in ein Polizeirevier umfunktionieren lässt — inklusive kleiner Gefängniszelle. In einer Bar lassen sich die Aufnahmen aus dem Fernsehstudio live auf einen in der Ecke hängenden Bildschirm übertragen. Hinter der Bar liegt eine Disko, dazwischen eine schummrige Großstadtgasse mit Graffiti und Mülltonne. Autofahrten lassen sich simulieren mit einem in der Halle geparkten Alfa Romeo und einer Rückprojektion, die wie in einem klassischen Hitch­cock-Film funktioniert, oder auch mit Hilfe eines kleinen per Hand getriebenen Laufbands, auf dem Spielzeugautos durch eine Landschaft fahren.

Die Sets sind Teil von Michel Gondrys Home Movie Factory, die in Mülheim im Rahmen der Ausstellung Ruhr Ding aufgebaut wurde. Die Home Movie Factory tourt schon seit 2008, nach Städten wie New York, Tokio und Rio de Janeiro ist Mülheim ihre achtzehnte Station. Der Franzose, bekannt für seinen Oscargewinner »Vergiss mein nicht« und seine Musikvideos in Do-It-Yourself-Ästhetik für Björk, Radiohead oder Daft Punk, hat das Konzept entwickelt, selber zur Kamera greift er nicht. Stattdessen können innerhalb von nur drei Stunden Gruppen von bis zu 15 Personen in den Sets einen kompletten Film drehen und gleich im Anschluss in einem vor Ort aufgebauten Kino anschauen. Wer mit Gondrys Werk vertraut ist, wird an seinen Film »Abgedreht« erinnert, der 2008 in die Kinos kam. Darin geht es um zwei Angestellte einer Videothek in New Jersey, die aus Versehen die Bänder löschen und daraufhin die Blockbuster selber mit einfachsten Mitteln neu drehen — mit überraschendem Erfolg bei ihrer Kundschaft.

War das die Initialzündung für die Home Movie Factory? Gondry sitzt im Kino in Mülheim und erzählt, wie er während der Arbeiten an »Abgedreht« mit fünfzig Komparsen aus einer Sozialbausiedlung einen Kurzfilm über den Jazzpianisten Fats Waller gedreht hat. Am Ende seien alle unglaublich stolz gewesen, als sie das Ergebnis mit leuchtenden Augen auf der Leinwand sehen konnten. Gondry wollte von da an möglichst vielen Menschen solch ein Glückserlebnis bescheren. Und dafür hielt er sich für besonders geeignet: »Als Teenager habe ich zusammen mit meinem Bruder kleine Filme gemacht. Damals hatte ich gar keine Ambitionen, selber Regisseur zu werden. Aber ich war gut darin, Menschen für ein Projekt zusammenzubringen. Es gibt immer Einzelne, die auf dem Weg die Motivation verlieren, ich habe sichergestellt, dass sie dranbleiben.«

Für die Home Movie Factory hat Gondry ein ausgeklügeltes System entwickelt, das selbst kompletten Filmneulingen in nur drei Stunden ermöglicht, einen Kurzfilm zu drehen. »Man muss es kompakt machen, damit die Leute interessiert bleiben«, erklärt Gondry. »Das funktioniert, wenn die Teilnehmenden wissen, dass sie schon in wenigen Stunden ihren Film auf der Leinwand sehen werden. Wenn man die Zeit stark begrenzt, müssen die Leute auch offener werden, sonst kritisieren sie sich ewig und fangen nicht mit dem Dreh an.«

Für die Gruppen beginnt die Zeit in der Home Movie Factory mit einem kurzen Rundgang durch die Sets. So bekommen sie schon mal ein Gefühl für die erzählerischen Möglichkeiten. Danach legt die Gruppe in einem ersten Schritt basisdemokratisch innerhalb von 45 Minuten das oder die Genre/s, den Titel und die grobe Handlung des Films auf einem Arbeitsblatt fest. Im zweiten Teil der Vorbereitung werden die einzelnen Szenen detaillierter geplant: Spielen sie tagsüber oder nachts, und in welchem Set? Was passiert genau? Wie heißen die im Film auftauchenden Figuren und wer spielt sie? Requisiten können selber aus Pappe gebastelt werden und es steht eine Garderobe zur Verfügung mit Kostümen, vom Brautkleid bis zur Polizeijacke. Eine Stunde bleibt nach diesen Vorarbeiten noch für den Dreh. Da der Film am Ende nicht geschnitten wird, muss der streng chronologisch ablaufen — und alles, was die Kamera aufnimmt, ist hinterher im fertigen Film auch zu sehen.

Als eine der ersten Gruppen hat eine Familie aus dem Ruhrgebiet in der Home Movie Factory ihren Film gedreht, eine Tragikomödie mit dem Titel »Das Leben des Herrn Müller — Freitag im Ruhrgebiet«. Herr Müller hat einen schlechten Tag: Morgens am Kiosk sind seine Lieblingszigaretten ausverkauft, im Zug zur Arbeit kann er seine Fahrkarte nicht finden und muss Strafe zahlen, im Büro wird er von seiner Chefin runtergemacht — und am Ende des Tages landet er auch noch im Gefängnis. Was er aber nicht weiß: Die ganze Zeit wird nach ihm gesucht, weil er 56 Millionen im Lotto gewonnen hat. Die gute Nachricht erfährt er im Knast.

Wenige Minuten nach dem Ende der Dreharbeiten schaut sich Michel Gondry den fertigen Film mit der Familie im Kino an. Die beste Stimmung kommt im Saal immer dann auf, wenn beim Dreh etwas schiefgelaufen ist:  ein Einsatz verpatzt wurde, ein ­Dialogsatz missglückt ist. Gondry versteht nicht genau, worum es im Film geht — er spricht kein Deutsch —, aber er lobt die ruhige und präzise Kameraarbeit.

Werden die Filme am Ende immer zu Komödien, einfach weil in einer so kurzen Zeit und mit so unerfahrenen Teilnehmenden unvermeidbar viele Pannen passieren? »Bei den Fehlern lachen die Leute natürlich am meisten«, sagt Gondry. »Aber ich freue mich immer zu sehen, wenn etwas Solides entsteht. Das beweist, dass man mit so einfachen Mitteln wirklich Filme machen kann. Aber natürlich ist das hier keine Filmschule, am Ende geht es um den Spaß und die Selbstermächtigung.« Trotzdem, einen gewissen Ehrgeiz kann Gondry nicht verbergen. Für die kommenden Gruppen will er in die Dreh-Anweisungen reinschreiben lassen, die Kamera möglichst ruhig zu halten.

Bis So 25.6. Infos und Anmeldung: urbanekuensteruhr.de