»Justitia!« von Gin Müller: Identitätspolitik im Theater

Brisante Fragen

Das Impulse Festival zeigt mit ihrem »Showcase« die Elfer-Auswahl der deutschsprachigen Off-Bühnen

Die Geschichte erinnert auf den ersten Blick stark an den Roman »Identitti« von Mithu Sanyal. ­Saraswati, eine renommierte Professorin für Postcolonial Studies und selbstbekennende Person ­of Colour, wird entlarvt: als Sarah Vera Thielmann, Deutsche und weißer als weiß. Ganz ähnlich geht es zunächst in dem Stück »Justitia! Identity Cases« zu. Eine Indigenen-Aktivistin stellt sich in Folge eines Tweets als Weiße mit reichen Eltern heraus. Sie hat die Community betrogen und ­Fördergelder erhalten, die eigentlich für Marginalisierte bestimmt waren. Ein Fall fürs Gericht? Oder den Online-Pranger? Was steht ­dabei im Theater auf dem Spiel?

Mit »Justitia! Identity Cases« (FFT, 8.6., 20 Uhr; 10.6., 21 Uhr) ­haben es die vier Performer*innen um Künstler*in und Dramaturg*in Gin Müller in die Auswahl des diesjährigen Impulse Festivals ­geschafft. In verschiedenen Show-Formaten — Gerichtsdrama und Musical, TV-Reportage und Twitter-­Postings — wechseln sie die Rollen und verhandeln brisante Fragen rund um Identitätspolitik: Der Fall der falschen Indigena scheint klar, aber wie sieht es aus mit dem Transgender-Aktivisten, der sich wegen der Frauenquote in einem Bewerbungsverfahren als Frau vorstellt, obwohl seine Transition zum Mann schon abgeschlossen ist? Wenn sich Gender-Grenzen allmählich auflösen, gilt das auch für die Kategorie »race«?

In Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr findet im Juni 2023 wieder das Impulse Festival statt, ausgerichtet vom NRW KULTURsekretariat als »Best-Of-Festival« der deutschsprachigen Freien Theaterszene. Seit Dramaturg und Kurator Haiko Pfost 2018 die Leitung des Festivals übernommen hat, setzt sich das Programm aus drei Schwerpunkten zusammen: Da ist der »Showcase«, der aus über 300 gesichteten Produktionen elf von der Impulse-­Jury ausgewählte Arbeiten der vergangenen Saison zeigt, da sind die Workshops, Panels und Vorträge der »Akademie« und da ist das »Stadtprojekt«, das gesellschaftliche Fragen mit einem lokalen Kontext und den Anliegen der ­Akteur*innen vor Ort verknüpft. Eingeladen für letzteres ist in ­diesem Jahr die Performancegruppe Turbo Pascal. Sie errichtet auf dem Ottoplatz in Köln-Deutz eine »Verkehrte Welt«: »Ein Autoscooter ohne Autos, ein spielerischer Konfrontationsraum, eine freie Fläche für Bewegungs-Fun, ein Übungsplatz für die Stadt von morgen«, erklärt Turbo Pascal — und ruft Kinder dazu auf, neue ­Regeln für den Straßenverkehr in der Großstadt zu erfinden. Am 18. Juni wird ihre Welt mit ­einer Kidical Mass-­Fahrraddemo, inklusive Überraschungsband und ­Rollerdisco gekrönt.

Doch zurück zum »Showcase«: Im FFT Düsseldorf, im Central des Düsseldorfer Schauspielhaus, im tanzhaus nrw und in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen laufen die Stücke. Ein bisschen ­erinnert das an die »Zehner Auswahl« des Berliner Theatertreffens, nur eben für die Off-Theaterszene — eine Ehre, wer aufgenommen wird. Im Programm sind in diesem Jahr unter anderem das Duo Absent.e pour le moment, bestehend aus Cédric Djedje und Safi Martin Yé, die mit »Vielleicht« (FFT, 15. & 17.6., 18.30 Uhr) von vierzig Jahren Kampf für die Umbenennung dreier Straßen im »Afrikanischen Viertel« in Berliner Wedding erzählen. Anhand von Video-Interviews mit Aktivist*innen, Erzählungen historischer Begebenheiten und persönlichen Erfahrungen bringt »Vielleicht« die Auseinandersetzung um die Umbenennung — verzögert bis heute durch Klagen von Gewerbetreibenden und Anwohnenden — auf die Bühne. In »Sinfonie des Fortschritts« (FFT, 16.6., 21 Uhr) ­berichten drei Performer*innen von Menschen aus Osteuropa, die im Westen unter unwürdigen Bedingungen arbeiten, ein Sprechkonzert, bei dem umfunktionierte Stichsägen und Akkuschrauber den Soundteppich schaffen.

Auch die in Köln verwurzelte Gruppe subbotnik wurde in die Auswahl aufgenommen: Mit ­»Expect a Tiger« (geheimer Ort, 9.6., 20.30 Uhr; 12.6., 19 Uhr) zeigt Schauspielerin, Köchin und langjährige subbotnik-Weggefährtin, Nadja Duesterberg, wie viel Arbeit eine Tischgesellschaft ist und ­welchen Potential zugleich in ihr steckt. Welche Gemeinschaft braucht es bei Tisch? Wie werden die Mühen aller honoriert? Wie viel Care-Arbeit ist für die Zubereitung eines Menüs notwendig? Brisante Fragen.  

impulsefestival.de