Theater der Lebendigkeit: Warum ist's nur immer so leise?

Das Mitgefühl des Publikums

»Rosalie et Léontine vont au théâtre« von 1911 zeigt, wie ein Theaterbesuch auch sein kann

Sie küssen den Wachmann, der vor dem Eingang des Theaters ­patrouilliert, streicheln den Herren auf den Plätzen vor ihnen die ­Glatzen und kommentieren das Geschehen auf der Bühne mit ­ausladenden Gesten und ungestümem Gelächter. »Rosalie et Léontine vont au théâtre« heißt der rund vierminütige Stummfilm, entstanden 1911, von dem italienisch-französischen Regisseur und Zirkusartisten Romeo Bosetti. Viel ist über ihn nicht bekannt. Er wuchs als Kind in einer Zirkusfamilie auf, besuchte niemals eine Schule und machte sich später als Schauspieler und Regisseur einen Namen, bis er verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte und die von ihm gedrehten Filme in ihrer Art nicht mehr gefragt ­waren. In dem 2008 erschienenen Buch »Lachende Körper« taucht sein Name auf, allerdings nur in einer Fußnote — zu dem Stummfilm über Rosalie und Léontine.

Denn immerhin verschaffte gerade sie, die Rosalie, dem Regisseur Bekanntheit: In einer ganzen Reihe von Kurzfilmen, ungefähr dreißig müssen es gewesen sein, ließ er die Figur auftreten. Mal streitet Rosalie sich mit ihrem Ehemann, mal muss sie ihre Möbel verhökern, um die Miete zu begleichen, doch die kehren auf wundersame Weise zu ihr zurück. Hinter der Rolle steckte die Schauspielerin Sarah Duhamel, eine der ersten Filmkomikerinnen in Frankreich, die Bosetti ­vermutlich im Filmstudio Pathé in Nizza kennenlernte. Warum die gemeinsam entstandene Reihe an humoresken Filmen weitgehend verschütt gegangen ist? Möglicherweise auch, weil das Filmstudio einer antisemitischen Hetzkampagne der Nationalsozialist*innen zum Opfer fiel und 1936 ihre Zahlungsunfähigkeit ­erklären musste.

Heute wird der Stummfilm »Rosalie et Léontine vont au ­théâtre« noch herangezogen, um zu zeigen, wie ein Theaterbesuch auch sein kann: mitfühlend und berauschend. Dass in den Publikumsrängen während der Auf­führung Stille herrscht, höchstens unterbrochen von jenem obligatorischen Zuschauer, der Keuchhusten hat, oder dem Telefon, das leise summt in der Hosentasche — das muss doch nicht so sein, will der Film zeigen. Rosalie und Léontine, die Freundinnen, die ihr Herz in beiden Händen ins Theater tragen, zeigen: Das Theater kann auch ein Ort der Lebendigkeit sein, in dem wir mitfühlen, anstatt bloß zu betrachten.