Posthum realisierter Entwurf: Etel Adnan, Ohne Titel, 2022, Keramik, Private Collection, France. courtesy: Sfeir-Semler Gallery Beirut/Hamburg

Imaginäre Fenster in geschlossenen Räumen

Die große Retrospektive der Künstlerin Etel Adnan strahlt von innen

Ein Labyrinth aus Farben, Formen und Worten entsteht im Inneren des Düsseldorfer K20, wo derzeit die große Retrospektive der libane­sisch-US-amerikanischen Künstlerin und Dichterin Etel Adnan (1925–2021) Halt macht. Die Ausstellung ist zuvorderst ein sinnliches Erlebnis, eine Schau, in der sich Weite in der Enge auftut und der gedankliche Horizont mit den Augen begehbar wird. Bilder auf Leinwand, auf Stoff, auf Keramik — es gibt viel zu bestaunen. Doch Adnans eigentliches Werkzeug waren immer die Worte, war sie doch Dichterin, lange noch bevor sie zum Pinsel griff. Erst 1959 fand sie nach dem Studium der Philosophie an der Pariser Sorbonne, in Berkeley und Harvard zum Malen, sie formte in Öl, was sie zuvor in Worten zum Ausdruck brachte.

In Beirut geboren, wuchs sie zu Hause mit Türkisch und Griechisch auf, lernte in der Schule Französisch und hörte auf den Straßen Arabisch. Zeit ­ihres Lebens schrieb Adnan auf Französisch, manchmal auf Englisch, fühlte sich jedoch immer der arabischen Literaturszene zugehörig. So empfand sie die Malerei schließlich als Ausweg aus dem multilingualen Dilemma, als ­Mittel zur Kommunikation über Sprache hinaus. Infolge des Unabhängigkeitskrieges in Algerien ­bekannte sie: »Ich brauchte nicht mehr auf Französisch schreiben, ich wollte in Arabisch malen.«

Ganz ohne Übersetzung sprechen die Bilder zu den Betrachtenden in einer universellen Sprache jenseits kultureller Grenzen, mit Buchstaben aus Farben, Worten aus Formen und Sätzen aus Gefügen. Ihre Bilder lassen sich dabei lesen wie ihre Poesie, wenn sich in abstrakten Spielen manchmal Anmutungen von lichten Landschaften finden und sich in den Gemälden formuliert, was sonst nur jenseits des Sprechbaren sichtbar wird.

Hier verbindet sich die arabische mit der westlichen Welt, in deren Epizentren Paris, San Francisco und New York die Künstlerin lebte und lehrte. Die konkrete Brücke zwischen Poesie und Malerei schlägt sie in ihren Leporellos, ziehharmonikaartig entfaltbare Hefte, die als kalligrafische Schriftbilder beinah skulptural den Raum durchziehen. Hier kombiniert sie an Hieroglyphen erinnernde Symbole mit handschriftlich notierten Gedichten.

Nach dem Vorbild japanischer Faltbücher entspinnen sich auf diese Weise meterlange, papierne Bänder genauso wie Narrative in englischer, französischer und arabischer Sprache. Einer der ausgestellten Leporelli — ein Glück, dass dieses oft übersehene Medium hier Platz eingeräumt bekommt — aus dem Jahr 1977 zeigt die Dächer von Paris: Es entsteht eine Partitur, spiegelt die zarte Liebe für eine Stadt, in welcher die Künstlerin mit ihrer Lebensgefährtin ­Simone Fatal bis zuletzt gelebt hat. In all ihren Faltbüchern artikuliert sich ein Fließen, eine Zeitlichkeit, welche beispielsweise der Ansicht von New York bei Regen fast filmischen Charakter verleiht.

Skulptural wirken auch die vielfarbigen Tapisserien, die sich für Adnan in der objekthaften ­Verknüpfung verschiedener Kulturkreise zum wichtigen Medium etablieren. Diese konnten, ähnlich dem großformatigen Keramikmosaik, jedoch aufgrund der aufwändigen und teuren Herstellung erst Jahre und Jahrzehnte nach der Entwurfsphase ausgeführt werden. Die Kunst der Teppichweberei lernte sie auf einer Reise nach Nordafrika, in einem Kunstzentrum für Kinder, woraufhin sie sich zurück in San Francisco bei Künstlerin Ida Grae mit natürlichen ­Färbemitteln und neuen Formen der Weberei beschäftigte. In der Ausstellung lässt sich in dem wandfüllenden Teppich »Eclat de lumière (Aufleuchten)« regelrecht eintauchen. Dessen Entwürfe stammen bereits aus den 1960er Jahren, jedoch erst 2021 nahm er mithilfe der französischen Manufaktur Les Ateliers Pinton d’Aubusson-Felletin die handgewebte Gestalt an. In ihm artikuliert sich ein Rausch der Farben, die aus weißem Grund heraus streben. Dieses ungerichtete Treiben erinnert bisweilen an bunte Kleinst­lebewesen, Amöben, die vom ­Zufall geformt wurden, an die ­Ursuppe und den Big Bang, an die Natur, die vor aller Entropie immer zunächst Form bildet. Hier zeigt sich Adnans Faszination für alles Mikroskopische und Kosmische, für die menschliche Hinwendung zum All. Es spiegelt sich ihre Auffassung vom Leben als ein Gewebe, das sich allseitig bedingt. Die Betrachtenden stehen beinahe geblendet vor der farbigen Fadenarchitektur, die bei geschlossenem Auge noch auf der Netzhaut ein Nachbild hinterlässt.

Ähnlich ihrer Worte sind die Bilder klar, bunt und hell. Vielleicht ein wenig zu schön? Doch in ihrer Kunst findet sich auch Dunkelheit. Ein Produkt der Zeit, als Adnan fern der Heimat im Exil lebte, sich zwischen den Welten heimatlos fühlte: Ein rotes Quadrat inmitten gespachtelter Farb­felder in freiem Fall auf grauem Grund. Immer wieder äußerte sich Adnan zum politischen Zeitgeschehen, stellte sich gegen den Vietnamkrieg, verließ aufgrund des libanesischen Bürgerkriegs Beirut. Danach entstand der Gedichtband »Arabische Apokalypse«. Die Bilder der Künstlerin kennen also Abgründe, die Katastrophe. Doch hält Adnan dagegen: Es speist sich ihre strahlende Farbigkeit aus einer Palette des Lichts — ihre Bilder öffnen imaginäre Fenster in den geschlossenen Räumen des K20. Sie erinnern an Klee, Matisse und Kandinsky, deren Werke als Referenzpunkte in der Ausstellung gleich neben Adnans hängen. Unerschöpfliche Inspirationsquelle ist für sie stets die Landschaft gewesen. So wie Cézanne die Montagne Sainte-Victoire malerisch umkreiste, widmete sich ­Adnan dem Mount Tamalpais, den sie von ihrem Fenster in Kalifornien aus sehen konnte. Die Schönheit der Natur und des Lebens scheinen ihre Bilder in kraftvollem Strom zu durchfließen — manchmal bleibt eben nicht viel mehr als der bloße Lichteindruck, was zum hohen Abstraktionsgrad einiger Gemälde führt.

»Die Poesie der Farben« in der Kunstsammlung ist auch eine ­Poesie des Alltags, des Friedens, der Weltoffenheit. Es ist eine sensible Untersuchung des Gesehenen, ein feinfühliges Hineinhören in die Welt mit einem offenen Herzen wie Geist. Wenn Sprache keine Worte mehr kennt, in Bildern zu uns spricht und kein Textgefüge je genüge, zu erklären, wie sich das Meer im Morgenlicht fühlt, der Regen, wenn er auf staubige Straßen trifft oder der Berg bei Wanderung des Lichts. Es lohnt unbedingt, ausgehend vom in der Ausstellung ähnlich einem Leporello kapitelartig ausgebreiteten Werk und Schaffen der Künstlerin, selbst genauer hinzusehen und auf den leisen Zauber der kleinen Dinge zu achten.

Kunstsammlung NRW — K20,
Grabbeplatz 4, Düsseldorf, bis 16.7.,
Di–So u. feiertags 11–18 Uhr