Suche nach dem »Sinking Man«: Was ist schon echt, was virtuell? Foto: Ana Lukenda

Die surreale Poesie der Glitches

Im Schauspiel Köln zeigt Roman Senkl die Live-Performance »Hinter den Zimmern« auf Twitch: die Geschichte über den »Sinking Man«, der durch eine Wand glitchte und verschwand

»Für mich sind sie die vielleicht bedeutendsten, mich am stärksten umtreibenden und elektrisierenden Beispiele surrealer Poesie in unserer Zeit«, schreibt der Autor Clemens J. Setz. Und meint: Glitches, also Fehler im Programmcode eines Computerspiels, die von den Spielentwickler*innen so nicht beabsichtigt waren. Figuren werden von plötzlichen Zuckungen befallen. Non-playable-Characters, also Figuren, die nur vom Computer gespielt werden und nur programmiert wurden, um ein paar wenige Worte zu sagen, liegen, wenn sie zu früh gestorben sind, als Untote auf dem Boden und wiederholen in einer endlosen Dauerschleife den einzigen Satz, für den sie erschaffen wurden.

Oder eine Spielfigur findet sich — wie in dem Rollenspiel »The Elder Scrolls« — plötzlich in einem kreuzförmigen Raum wieder, aus dem es kein Entkommen gibt und der voll ist mit den Figuren, die der Spieler selbst zuvor umgebracht hat. »Jedes Mal, wenn er einen der toten Körper aus einem der vier Ausgänge wirft, fällt dieser in unendliche Tiefe und erscheint danach wieder direkt hinter ihm«, schreibt Clemens J. Setz. Ein Höllenraum als Symbol des schlechten Gewissens?

Etwas sonderbar Tröstliches liegt in diesen Glitches, diesen unabsichtlichen Störungen, Kurzschlüssen, Diskontinuitäten, die sich auch als Logik in der modernen Erzählstrategie erkennen lassen, etwa wenn in Isaac Bashevis Singers Roman »Schatten über dem Hudson« seelenlose Dinge mit dem nachlassenden Gelehrtenverstand Verstecken spielen: »Wie oft waren seine Hausschuhe verschwunden! Zehnmal konnte er sie suchen unterm Bett, sie waren nicht da. Und beim elftenmal standen sie direkt vor seiner Nase, als wäre nichts geschehen.« Oder sich bei Kafka die samtene Brüstung einer Theaterempore von einem Augenblick auf den anderen in den Rücken eines sehr schmalen, schlanken Mannes verwandelt, der »bis jetzt bäuchlings da gelegen war und sich jetzt langsam wendete, als suche er eine be­quemere Lage«.

Das Faszinosum der Glitches — auch am Theater ist es nun angekommen. Genauer: in der von ­Roman Senkl inszenierten Live-Performance »Hinter den Zimmern«, die bei Twitch gestreamt wird, eigentlich ein Tool für Gamer*innen, um Videospiele zu übertragen. Eine Rückkehr zum eigentlichen Geburtsort des Phänomens, sozusagen, ein vom Regisseur spannend ausgedachter Zusammenfall von Raum und Theatralik.

Im Mittelpunkt der Story: ein Video, das 2015 viral ging, und einen Mann zeigt, der durch eine Wand glitcht und seitdem verschollen ist. Ort des Verschwindens sind die alten Werkstätten des Theaters in Ehrenfeld, wo er früher als Nachtwächter tätig war. Was aber hat es mit dem »Sinking Man« auf sich? Unter dem Vorwand, einen Fernsehbeitrag über einsame Berufe zu produzieren, beraumen Henni und Toto (Kristin Steffen und Alexander Angeletta) ein Interview mit Joris van Doorn an, Bruder und Nachfolger des »Sinking Man«, und geraten immer tiefer hinein in ein Netz aus Familiengeheimnissen, Verschwörungsmythen, der Glaubhaftigkeit von Bildern und der wahnhaften Suche nach der »einen Wahrheit«.

Netzttheater-Pionier Roman Senkl, der unter dem Label minus.eins die Möglichkeiten von virtuellen Welten und interaktivem Story­telling erforscht, hat für das Projekt das 2019 auf dem Imageboard 4chan entstandene Internetphänomen der »Backrooms« zum Anlass genommen. Ein anonymer Nutzer fragte damals, nach »beunruhigenden Bildern, die sich nicht gut anfühlen«. Das erste Foto, das die Backrooms abbildete, wurde hochgeladen: Ein leicht geneigtes Bild eines Ganges in gelber Farbe (an dessen Ästhetik sich Bühnenbildner Simon Lesemann für das Stück »Hinter den Zimmern« orientierte). Bald entspannen sich die ersten Geschichten um das Foto: Backrooms seien durch den Geruch von nassem Teppich, Wän­den mit einem einfarbigen Gelb und dem Summen von Leuchtstoff­lampen gekennzeichnet. Betreten könne man sie nur, indem man aus der Realität an den falschen Stellen ausbreche. Die Creepypasta — ein Kunstwort aus der Kombination von »creepy« und »Copy and paste«, weil die Geschichten durch Kopieren weitergegeben werden — nahm Fahrt auf.

In »Hinter den Zimmern« hilft ausgerechnet eine alte Tonbandkassette beim Glitchen durch die Wand: Henni, völlig berauscht von der Suche nach der Wahrheit über die Backrooms, landet tatsächlich in dem schrecklichen gelben Hinterzimmer der Wirklichkeit und trifft dort auf den verschwundenen »Sinking Man« (Paul Basonga). In einer seltsamen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Dimensionen versucht auf der anderen Seite der Wand Toto, Henni wiederzufinden. Es beginnt ein sich um­krei­sendes Suchen in immer verzweig­teren, obskuren Welten, das schließ­lich in der Live-Performance auf Twitch mit einer satten Pointe endet.

Mit »Hinter den ­Zimmern« hat Roman Senkl ein spannendes Projekt geschaffen, das einen neuen Theaterraum erschließt

Mit »Hinter den Zimmern« hat Roman Senkl ein spannendes Projekt geschaffen, das einen neuen Theaterraum erschließt. »Mich hat eigentlich immer interessiert, das Theater auch in diese Räume zu bringen, statt ausschließlich digitale Tools ins Theater zu holen«, erklärt der Regisseur im Interview mit dem Deutschlandfunk. Dafür hat er die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft während des Lockdowns auf Mozilla Hubs versetzt, eine Web-App, mit der sich dauerhaft digitale 3D-Räume erstellen und zu einem virtuellen Universum verbinden lassen. In Kooperation mit dem Theater Dortmund hat Senkl 2021 schließlich ein rein digitales, webbasiertes Theatererlebnis geschaffen: »Das HOUSE — ReInventing the Real« mit Livemusik, einer Art Eröffnungsfeier, jeder Menge kruder Gestalten — und dann diesem Gerücht, dass da jemand seit Jahren eine exakte Kopie der Kathe­drale Notre Dame auf der Bühne nachbaut.

Was ist schon echt, was noch virtuell? Für Roman Senkl sind ­Internetphänomene wie Glitches oder die Backroom-Theorie auch Abbilder der Sensibilität modernen Bewusstseins, weil sie nach Erklärungen suchen für eine Wirklichkeit, die immer unzuverlässiger wird: »In der ich Bilder sehen kann, in der ich Stimmen hören kann, in der ich zunehmend auch Räume betreten kann, ohne sicher gehen zu können, wie real die sind«, sagt er im Deutschlandfunk. Ende Juni eröffnete er, als neuer Leiter die erste Spielstätte für digitales Theater am Staatstheater Nürnberg, das Extendend Reality Theater. Von dort wird man sich auf Neues aus dem Erfindungsreichtum des Regisseurs freuen können — hoffentlich im Stream auch verfügbar für das Kölner ­Publikum.