Emma Goldman: Anarchismus und Theater, Foto: Wikimedia Commons

»Nährboden radikalen ­Denkens«

Die Anarchistin Emma Goldman war überzeugt von der Kraft des modernen Theaters

Über Emma Goldman kursieren viele legendäre Geschichten, eine geht so: Zu einem Vortrag habe sie ein schweres Schloss und eine eiser­­ne Kette mitgebracht, sie um sich und das Podium gewickelt und dann aus dem Fenster geworfen, um es draußen an einer Stange zu befestigen. Käme die Polizei, bräuchte sie so lange, um Schloss und Kette zu knacken, dass ihr Vortrag unmöglich unterbrochen werden könnte. Bei anderer Gelegenheit, während einer Abend­lesung, bei der ihre Rede verboten worden war, stopfte sie sich ein Taschentuch in den Mund und saß geknebelt vor dem Publikum auf der Bühne.

Emma Goldman, »Queen of Anarchism«, 1869 geboren, 1940 in Toronto gestorben, war wie viele öffentliche Redner*innen damals eine Performerin: »Sie verwickelte das Publikum in ein einzigartiges politisches Theaterspek­takel und lieferte sich mit ihm einen humorvollen Schlagabtausch, der so lebendig war, dass man sie sogar für eine Varieténummer anfragte«, schreibt die Wissenschaft­lerin Candace Falk und erklärt auch das Verhältnis der Anarchistin, selbst Tochter eines jüdischen Theaterdirektors, zum modernen Drama: Denn Goldman war überzeugt, das Theater könne Menschen tiefgreifender und empathi­scher berühren als »die wildesten Ansprachen eines Seifenkisten-Redners«. Als »Nährboden radikalen Denkens« verbreite es neue Werte, wie sie selbst in ihrem 1916 erschienenen Buch »The Social Significance of the Modern Drama« erklärte. Schon zwei Jahre zuvor hatte sie auf ihrer Vorlesungsreise durch die USA in jeder Stadt, in der sie Halt machte, die Gründung kleiner, sozialkritischer Theater vorgeschlagen.

Eines fällt angesichts der zahlreichen Vorträge über das Theater, die Goldman vor exklusiven Drama-Clubs für Frauen ebenso wie vor Kohlearbeitern in deren Mittagspause hielt, besonders ins Auge: Sie waren auch eine Möglichkeiten, Themen wie etwa die Unterdrückung der Frau (Ibsens »Nora«) und Armut (Hauptmann: »Die Weber«) anzusprechen, und auf diese Weise zumindest seltener mit staatlicher Repression rechnen zu müssen. Über die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters sagt das viel aus: Viel mehr als heute war es auch ein Medium, das Kritik an den Zustän­den äußerte — und damit ein deutlich breiteres Publikum erreichte, als das heute der Fall ist.