Seelentier der Literatur: Katze mit Georges Perec

Das Loch in der Geschichte

David Bellos entschlüsselt das Werk von Georges Perec mit seinem Leben

»Ich habe keine Kindheitserinnerungen«, hat Georges Perec in »W oder die Kindheitserinnerung« geschrieben, einem autobiographischen Roman. Immer wieder entgleiten dem Autor darin die Erinnerungen, sie verschwinden in einem Loch. »Der Name meiner Familie ist Peretz. Er findet sich schon in der Bibel. Auf Hebräisch bedeutet Peretz ›Loch‹«, heißt es später. Georges Perecs jüdische Eltern waren in den 1920er Jahren aus Polen nach Paris gekommen. Sein Vater Icek Peretz starb 1940 bei der Verteidigung von Paris, seine Mutter Cyrla Szulewicz schickte Georges 1941 aufs Land, wo er bei Verwandten versteckt die Verfolgung überlebte. Sie selbst wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Diesen Verlust, dieses »Loch«, stellt auch sein Biograph David Bellos in »Georges Perec. Ein Leben in Wörtern« an den Anfang und hebt die Erfahrung, 1936 als Jude in Frankreich geboren worden zu sein, als zentral für Perecs Schaffen hervor. Ausgehend von den im Untertitel genannten »Wörtern«, dem literarischen Werk von Perec, dringt Bellos immer tiefer in das Leben des Autors ein, stellt Zusammenhänge her zwischen Leben und Werk, literarischem Experiment und autobiographischer Erfahrung.

»Man rettet sich (manchmal), indem man spielt«, hat Perec in »Die dunkle Kammer« geschrieben, einem Traumtagebuch von 1968 bis 1972. In der Tat wirkt das Spiel mit der Literatur und mit Sprache wie die Rettung Perecs vor den Leerstellen seiner Biographie. Experimente wie der Roman »Anton Voyls Fortgang« sind um diese Leerstelle herum arrangiert. Die Abwesenheit scheint auf jeder Seite auf: Das Buch kommt ohne den Buchstaben E aus. Anderswo erkundet Perec seine Träume oder Orte, die mit seiner Biographie verbunden sind. Nahezu jedes seiner Bücher trägt autobiographische Züge, doch bleibt stets eine Distanz, als blicke der Autor von außen auf sich. Als Kind musste Perec lernen, sich zu tarnen. Es gehe in seinem Werk um »den feinen Unterschied zwischen faking und making, zwischen Machen und Nachmachen«, schreibt Bellos. Mit »Georges Perec. Ein Leben in Wörtern« hat Bellos einen zentralen Beitrag zur Entschlüsselung dieser feinen Unterschiede im Werk des 1982 verstorbenen Autors geliefert. »Schlagzeug spielen lernen, mit einem Comicstrip-Zeichner zusammenarbeiten, ­Vladimir Nabokov kennenlernen« hat Perec 1981 in »Einige der Dinge, die ich wirklich noch machen müsste, bevor ich sterbe« notiert. »Perec lesen« sollte sich jede und jeder auf die eigene Liste setzen.

David Bellos: »Georges Perec. Ein Leben in Wörtern«, Diaphanes, 704 Seiten, 45 Euro.