Mit 140+ auf dem Tacho © Boiler Room

Dekadente Tempoverschärfungen

In Clubs galt lange die Regel: Bei 140 BPM ist Schluss. Aber nach der Pandemie leben immer mehr DJs den Geschwindigkeitsrausch

Wenn dieser Text seinen Weg in die Briefkästen, zu den Zeitschriften­händlern und in deine Hände, liebe Leser*in, gefunden hat, wird die diesjährige Tour de France gerade zu Ende gegangen sein. Und höchst­wahr­schein­lich wird abermals das wunder­bare Wort »Tempo­verschärfung« eine zentrale Rolle auf weiter Flur und an Berghängen gespielt haben. Beim Fahrradrennen, wie eigentlich bei allen Rennen, steht die Tempo­verschärfung für einen Sprung nach vorne: Ein*e Sportler*in katapultiert sich geradezu in eine andere Dimension ihres Könnens und des gesamten Sports. Der trainierte Körper zeigt sich in voller Pracht.

Zwar zeigen sich Körper auch auf den hiesigen Dancefloors in voller Pracht, jedoch ist es bei denn lustvollen Bewegungen zumeist egal, ob vorher viel oder wenig trainiert wurde. Hier zählt nur Herz und Spaß. Party halt. Doch die Tempoverschärfung, die man dieser Tage auf den Tanzflächen (und bei HÖR, Boiler Room und Konsorten) miterleben darf, die wird immer häufiger und prominenter kritisiert. Es rumort nicht nur in Kommentar­bereichen, bei Reddit, sondern auch die ­DJ-­Legende Laurent Garnier hat sich abschätzig geäußert. Selbst beim ­ehemaligen Spex-Schwester­blatt, Groove, mehren sich die kritischen Artikel.

Was die Kritiker*innen eint, so scheint es, ist eine kulturpessimistischer Blick, der verschiedene Phänomene subsumiert. Harter Boller-Techno, Trance-Revival, Euro-Trash werden da zu eins, was nur einen Schluss zulässt: Das einzig verbindende Element ist das enorm hohe Tempo, das auf den Dancefloors herrscht, wenn Acts wie Cassie Raptor, VTSS oder ­Weeeirdos-Gründer*in Lolsnake ihre Kreise ziehen. Hier springt man teilweise willkürlich von Bigroom zu Gabber, über (Hard-)Trance und Euro-Trash zurück ins technoide Geballer. Doch wer beschwert sich? Handelt es sich um einen ­Generationenkonflikt?

Man muss vielleicht etwas ausholen und einen kurzen Blick auf die Entwicklung der letzten 15 Jahre auf den heimischen Tanzflächen werfen. Es lassen sich  — stark generalisiert — verschiedene Entwicklungen festmachen: Rund um das Jahr 2010 waren Deep House, Minimal Techno und Nu Disco die gefragten Sounds der Stunde. Labels wie Permanent ­Vacation, Dial oder auch Kompakt präsentierten ihre Hits der Saison mit 120 bis 125 BPM. Ausreißer nach oben und nach unten gab es immer wieder, aber generell schien es der Tänzer*innenschaft damals ein angemessenescParty-Tempo.

Harter Boller-Techno, Trance-Revival, ­Euro-Trash werden da zu eins, was nur einen Schluss zulässt: Das ­einzig verbindende ­Element ist das enorm hohe Tempo, das auf den Dancefloors herrscht

Danach zerfasert die Szene ein wenig. Nach und nach werden ­andere Taktzahlen ausprobiert. Musiker*innen, die Clubs wie dem Salon des Amateurs in Düsseldorf und dem dort zelebrierten Geist zugetan sind, entdecken sich immer häufiger, dabei langsamer und langsamer zu werden. Man unterschreitet beizeiten auch die 100 BPM-Marke. In Hamburg gibt es dafür ein eigenes Wort: Sutsche. Derweil können anderswo, im Fahrtwind von Re-Issues ­solcher Labels wie dem Chicagoer Dance Mania oder einem gewissen Hype um englische Bass-Spielarten auch BPM-Zahlen ­jenseits der 130 Schläge pro ­Minute ein ­Revival feiern.

Fast Forward ins Jahr 2023. Handbremsen sind schon lange gelöst, der Motor dreht auf. 140 BPM und mehr — mit der Geschwindigkeit einer Lok ziehen gerade die DJs durch die Lande. Ihre Vehikel heißen Ghetto Tech, Trance-­Revival oder gleich Euro-Trash. Nicht unpassend zum Bild der sportlichen Aktivität, das wir hier anfangs aufgemacht haben, lautet die Maxime: höher, schneller, weiter. In einem Spannungsfeld zwischen Rummel-Ästhetik und eingefordertem Verständnis für die neuerlichen Eskapaden ­firmiert sich in den letzten zwei, drei Jahren ein Milieu, das ganz klar sagt: faster is better.

Ein Act wie Brutalismus 3000, ein Berliner Duo, das seinen Style als »Nu Gabber Post Techno Punk« definiert, ist Seismograph des Trends: Sie stehen für den finanziellen Erfolg, den man mittlerweile mit der Tempo­ver­schärfung erreichen kann. So spielen sie nicht nur bei den usual suspects of Youtube, den beiden Kanälen Boiler Room und HÖR Radio, sondern auch an Orten, deren Tür normalerweise nicht nur für Gäste, sondern auch für Künstler*innen recht hart ist. Beispiels­weise im Berghain in ­Berlin. In Köln — und da kann man sich eines leisen Lachers kaum ­erwehren — spielten sie in den letzten 16 Monaten im Bootshaus UND in der Live Music Hall. Das beweist gleichwohl, wie sehr die neue Tempohärte auch vom Mainstream angetrieben wird. Aufgeheizt und angetörnt von ­Insta-Reels und TikTok-Trends wirken Kids, einige davon gar nicht alt genug, um in Clubs zu kommen, wie Katalysatoren. Für Brutalismus 3000 bedeutete das sogar einen Charts-Einstieg; auf Platz 11 der Albumcharts. Eigentlich undenkbar, oder?

Nur wenn man in die unmittelbare Vergangenheit schaut, denn wir waren schon einmal genau an diesem Punkt. Sagen wir mal 1994, als die Compilations des Hardcore-Techno-Events Thunderdome stabile Charts­stürmer ­waren, sich in den Niederlanden und Belgien, aber auch hier Hardcore- und Gabber-Szenen herausschälten. Wir haben bereits in der letzten Ausgabe mit dem Rotterdam Terror Corps geredet, auch der Name Scooter fiel. Wir hätten gleichwohl auch von Charlie Lownoise und Mental Theo berichten können, die bereits damals Musik gespielt haben, wie sie heute wieder aktuell ist. Angeblich warten mittlerweile sogar mehrere hochrangige DJs mit deren Hit »Wonderful Days« in ihren Sets auf. Neue ­DJ-Stars wie VTSS spielen das harte Geprötter von Brutalismus 3000, Hardcore Continuum-Sounds, Trance und ein paar alte Hits (im ­etwas fetteren, modernen Gewand) durchaus schnell nacheinander weg. Hauptsache die Geschwindigkeit stimmt. 140 BPM — das scheint der neue Referenzwert zu sein.

Ob man da mitzieht, ist nicht nur eine Frage des Alters: Das ­beweist zum Beispiel das Clubsound-Chamäleon Ellen Allien, die sich mittlerweile auch auf Hochtouren durch die Lande zieht. Doch dann sind da andere, sagen wir mal, etwas ältere Kinder des Dancefloors, die mit Deep House, wohlgemerkt aber auch mit energischen Detroit- und europäischen Techno-Sounds, groß geworden sind. Einige davon fremdeln immer noch. Zum Beispiel der Autor dieser Zeilen und sein Ko-Redakteur fühlen sich entfremdet, wenn der Tacho 140 zeigt. Wo Techno nämlich bloß zur Leistungsschau verkommt, geht doch etwas verloren — und sei es nur das Gefühl einer gewissen Zeitlosigkeit. Also vielleicht doch ein Generationen­konflikt — von jenen, die das ganze zum ersten Mal erleben und den anderen, die beim letzten Zusammenbruch 2000 schon unterwegs waren.