Kritisch erwachsen sein: Wider die Benimmregeln

»Adultismus betrifft uns alle«

Simbi Schwarz über »Kritisches Erwachsensein« und die Frage, ob Kinder wirklich erzogen werden müssen

Simbi Schwarz, Sie geben Workshops zu den Themen Adultismus und kritisches Erwachsensein. Was verstehen Sie darunter? 

Simbi Schwarz: Unter Adultismus verstehe ich, wenn Erwachsene ihre Macht nutzen, um Kinder klein zu halten und ihnen ihre Erfahrungen und Meinungen abzusprechen. Es herrscht die gesellschaftliche Idee vor, dass junge Menschen »erzogen« werden müssen, das halte ich für falsch. Klar sind gerade sehr junge Menschen darauf angewiesen, Zuneigung und Unterstützung von Erwachsenen zu bekommen. Die meisten Regeln, die Erwachsene aufstellen, dienen aber dazu, das Leben der Erwachsenen einfacher zu machen: »Sei still!« oder »Hampel nicht herum!« Kritisches Erwachsensein meint für mich die permanente Selbstreflektion darüber: Sage ich jetzt nur, das Kind solle sich auf diese oder jene Weise verhalten, um es mir bequemer oder leichter zu machen? Oder kann ich es auch anders begründen?

Zusammen mit Ihrer Mutter haben Sie darüber ein Buch geschrieben. Wie kam es dazu?

Meine Mutter ManuEla Ritz wurde vom Verlag angesprochen, ob sie ein Buch zu diesem Thema schreiben könne. Sie hat meinen Bruder und mich gefragt. Ihr Gedanke: Wenn ich schon über kritisches Erwachsensein und Adultismus schreibe, warum dann nicht gemeinsam mit denen, die es betrifft, mit ­jungen Menschen. Mein Bruder wollte nicht, also haben wir zu zweit darüber nachgedacht, wie sich so ein Buch gestalten ließe. Wir wollten eine Form finden, in der wir beide gleich viel Schreibanteil haben. So kam es zu der Idee, die Seiten zwischen uns gerecht aufzuteilen. Die eine Hälfte schrieb sie, die andere ich — und damit keine von uns am Anfang steht, wurde daraus ein Wendebuch.

Die meisten Regeln, die Erwachsene ­aufstellen, dienen dazu, ihr Leben einfacher zu machen Simbi Schwarz

Wie gelingt kritisches Erwachsensein? Können Sie ein Beispiel geben?

Ich habe die Unterscheidung in sogenannte »Tu-Regeln« und »Veränderungsregeln« etabliert. Warum »Tu-Regeln« gut und wichtig sind, lässt sich leicht begründen. Es ist wichtig, dass man sich regelmäßig die Zähne putzt, sonst bekommt man Zahnschmerzen. Oder dass man nach rechts und links schaut, bevor man eine Straße überquert. Veränderungsregeln haben hingegen keinen eigenen Wert, sondern dienen dazu, das Kind so zu verändern, dass es nicht störend ist. Die Aufforderung »Erzähl doch auch mal etwas!« fällt etwa in diese Kategorie. Ich erinnere mich daran, dass ich diesen Satz als Kind als sehr unangenehm empfunden habe, weil mit Druck versucht wurde, meine Schüchternheit zu übergehen, damit ich einen angenehmeren Eindruck mache oder Gespräche mit mir einfacher sind.

Solche Situationen kennen wir vermutlich alle.

Das stimmt. Von anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus haben alle schon mal gehört, von Adultismus — was wirklich alle betrifft, denn alle waren einmal Kind — hingegen selten. Wenn wir einen Workshop geben, machen wir deswegen viel Biografiearbeit, bei der die Teilnehmer*innen selbst entscheiden können, ob sie sich mit einem glücklichen oder schmerzhaften Erlebnis auseinandersetzen wollen. Häufig setzt das viel Schmerz, Wut und Traurigkeit frei, weil Erfahrungen des Übergangenwerdens wieder hoch kommen.

Welchen Einfluss hat die Beschäftigung mit dem Thema auf die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter gehabt?

Meine Mutter hat sich schon seit der Geburt meines älteren Bruders mit Adultismuskritik beschäftigt, insofern hatte ich dazu immer schon einen Bezug. In unserem Alltag gab es wenig strikte Regeln, eigentlich nur zwei: »Nicht von einem Bildschirm zum nächsten wechseln« war eine, die andere, dass mein Bruder und ich uns abends ab 20 Uhr alleine in unseren Zimmern beschäftigen sollten. Wann wir ins Bett gingen, entschieden wir selbst, aber meine Mutter brauchte Zeit für sich nach einem langen, manchmal anstrengenden Tag. Ich würde sagen, dass in ­meiner Familie viel auf Augenhöhe miteinander ausgemacht und ­verhandelt wurde — und ich würde sagen, das hat mir auch, jetzt wo ich selbst erwachsen bin, gut getan.

ManuEla Ritz, Simbi Schwarz: Adultismus und ­kritisches Erwachsensein. Hinter (auf)geschlossenen Türen.
Unrast ­Verlag 2022, 544 Seiten, 24 Euro