Henrike Naumann, 2000 (Traueraltar der deutschen Einheit, Desolation, Das Reich, BRD), 2018. Hier in der aktuellen Ausstellung im Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha

Keine Themen-Ausstellung

Die Ausstellung »Illiberal Lives« im Aachener Ludwig Forum hinterfragt die Vorannahmen der Moderne und geht dabei erfrischend hintergründig vor

Wenn man sehr genau hinschaut, dann versteht man schon auf dem Weg von Köln nach Aachen, was die Kurator*innen der aktuellen Ausstellung im Ludwig Forum meinen, wenn sie von »Illiberal ­Lives« sprechen. Die Unfreiheiten, die der Ausstellung den Namen schenken, beginnen beizeiten da, wo man für sein 49-Euro-Ticket ein Abo abschließen muss, in der KVB und dem Hauptbahnhof ­einer ständigen Überwachung aus Kameras, DB-Sicherheit und Polizei unterworfen ist und in der Bahn Zoll wie Bundespolizei nach Schmugglern und Geflüchteten suchen. Ja, es sind Eingriffe, die wir heute als klein oder vernachlässigbar einstufen mögen, was nur zeigt, wie sehr wir gewohnt sind, in einer freiheitlichen Demokratie Rechte abzugeben.

Es wäre für die Gastkurator*innen Kerstin Stakemeier und Anselm Franke gemeinsam mit dem Aachener Kurator Holger Otten und der Direktorin des Ludwig Forums, Eva Birkenstock, ein leichtes gewesen, sich über naheliegende Themen wie »Überwachung« den heutigen Unfreiheiten zu nähern. Man erwartet dann in einer solchen Ausstellung Closed-Circuit-Video-Installationen, Käfige, Bilder aus Abu-Ghraib oder ­Afghanistan. Umso erfreulicher ist, dass man das alles eben nicht findet. Stattdessen gräbt man sich durch Amsterdamer Grachten, besucht den Kölner Karneval und schafft erschreckend aktuelle Diskussionen zwischen der an­sässigen Sammlung und den eingeladenen Künstler*innen.

Man könnte behaupten, dass man hier die Handschrift der noch vergleichsweise frisch eingesetzten Direktorin Birkenstock erkennt, die seit ihrem Amtsantritt 2021 eben nicht »on the nose«, also nicht unnatürlich explizit, arbeitet, sondern gewagte und hoch-interessante Umwege einschlägt. Sehr passend ist hier der Verweis auf die außergewöhnliche Retrospektive der Kubanerin Belkis Ayón, die zum Jahreswechsel 2022/23 realisiert wurde. Birkenstock fand in den Untiefen der unerwartet diversen Sammlung Peter Ludwigs die Werke der 1999 in Havanna gestorbenen Künstlerin. Da Birkenstock selbst in Havanna studierte und sich im Dunstkreis Ayóns aufhielt, lag es für sie auf der Hand, dieser meist übersehenen Künstlerin eine Retrospektive zu widmen.

Man erwartet Käfige, Bilder aus Abu-Ghraib oder Afghanistan. Stattdessen gräbt man sich durch Ams­ter­damer Grachten, besucht den Kölner Karneval …

Für »Illiberal Lives« ging es wieder in die Sammlung des Hauses, diesmal mit den bereits genannten Gastkurator*innen Stakemeier und Franke, aber auch mit den eingeladenen Künstler*innen, die in einen Dialog mit dem Haus treten sollen. Etwas hervorzuheben fällt gleichwohl schwer, da diese Ausstellung so schwungvoll und gleichzeitig komplex, so sinnlich und dann wieder konzeptuell funktioniert, dass man wahrlich bei jedem Besuch neue Beziehungen erkennt und wertschätzt.

Offensichtlich sind jene Arbeiten der Zwickauerin Henrike Naumann, die schon länger mit ihren multimedialen Skulpturen aus Neunziger-Wohnwänden, Sperrmüll-Funden und Videos für Furore sorgt. Naumann übernimmt mit gleich fünf Werkgruppen die große zentrale Halle — vermutlich ist es vorerst das letzte Mal, dass man diese Installationen mit so merkwürdig-genialen Namen wie ­»Ostalgie« oder »Evolution Chemnitz« gemeinsam sieht. In ihrem »Traueraltar der deutschen Einheit« findet man nicht nur Kränze, die das ungerechte Zusammenwachsen der beiden Deutschlands kondolieren, sondern auch eine Büste des Schokoladen-Fabri­ka­teurs in dessen alter Halle man sich hier befindet, Peter Ludwig. Diese Büste stammt von Lew Kerbel, der vor allen Dingen für seine Lenin- und Marx-Denkmäler in den Ländern des Warschauer Paktes bekannt ist. Damit verweist Naumann nicht nur auf die eigenartigen und speziellen Geschäftsbeziehungen, die Ludwig in die Sowjetunion pflegte, sondern auch auf eine deutsch-deutsche Kontinuität: Monumental konnte man auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Das beweist auch Jörg Immendorffs Bronze »Naht (Brandenburger Tor — Weltfrage)«, das in seiner immensen Übermenschlichkeit vor Nationalmythos strotzt. Eingekesselt, man möchte fast eingehegt und niedergerungen sagen, wird »Naht« von Naumanns »Das Reich«. Der Pressspahn in Holzoptik, in schwarzem Vinyl-Furnier, der womöglich sogar in der DDR für bundesdeutsche Haushalte und ihre Wohnzimmer gefertigt wurde, steht um das Brandenburger Tor wie ein okkulter Ritualkreis. Wer sich durch die Installation bewegt, fühlt sich zwischenzeitlich sogar an Stonehenge erinnert. Naumanns Eingriffe hinterfragen dabei auf köstliche Art und Weise, wie »freiheitlich« wirklich die Staatsordnung im besseren der beiden deutschen Staaten war, wie entnazifiziert und entmythologisiert in der Bonner Republik gewerkelt wurde. Immendorffs triefender Nationalismus spricht nicht gerade dafür.

Fantastisch sind auch die Arbeiten des polnischen Künstlers Mikołaj Sobczak. Gleich ins Auge fällt das riesige Tafelbild »The Vision«, das mit seinen 220 × 960 cm und der saftigen und psychedelischen Farbigkeit kaum zu übersehen ist. Dabei setzt Sobczak nicht auf Überwältigung, sondern erschafft eine alternative Geschichte der Revolutionsbewegungen, die nicht — sprichwörtlich — »von den Gewinnern geschrieben«, sondern von ihren Potenzialen her gedacht wird. So erkennt man Kaiser Jakob I. von Haiti, den Held der ersten erfolgreichen Sklavenrevolution. Dieser Vision zur Seite gestellt ist »Maggio 1968 — Gior­nale Murale« des italienischen Malers und Essayisten Renato Guttuso, das in dieser Nachbarschaft 55 Jahre nach seinem Entstehen frisch und aktuell wirkt.

Es geht um solche Korrespondenzen und Auseinandersetzungen — über Generationengrenzen und Systemfragen hinweg. So gehen Sobczak, der geboren wurde als die Sowjetunion zusammenbrach, und Guttuso, der in Italien zur Speerspitze der kommunistischen Bewegung gehörte, doch in eine selbe Richtung, wenngleich Guttusos sozialistischer Realismus beim jungen Polen ein aktuali­siertes Echo ist.

Diese und noch weitere unerwartete Konfrontationen bilden den Kern dieser Schau, die eben keine »Themenausstellung« sein soll, wie Kurator Otten und Direktorin Birkenstock nochmal betonen. Statt vergeblich nach einem »roten Faden« zu suchen, den man aber doch finden kann, wenn man möchte, lohnt sich der unverstellte Blick auf die fast 80 Werke, die mit viel Verve gehängt und gestellt wurden; was den (neuen) internationalen Rang des Ludwig Forums unterstreicht.

Ludwig Forum Aachen, Jülicher Str. 97; Di–So 10–17 Uhr, Do 10–20 Uhr; bis 10.9.