»Dunkeldorf«: Doku-Theater über den bis heute nicht aufgeklärten Bombenanschlag am Wehrhahn, Foto: Hans Peter Maria Mueller, Ralf Puder

Wo geht’s hier auf die Barrikaden?

Auf der Suche nach dem politischen Theater — was lohnt sich beim Spielzeitauftakt an Rhein und Ruhr?

Eins ist sicher, beschwören werden sie es alle, das politische Theater: weil es »Reflexionsräume öffnet«, »zum Perspektivwechsel einlädt«, Dieses »anprangert« und Jenes »schonungslos offenlegt«. Wie immer zum Saisonauftakt werden die Theater-Intendant*innen in ihren Relevanz-Reden verbal auf die Barrikaden gehen, bis Kapitalismus und Patriarchat mit den Zähnen klappern.

Die Ernüchterung kommt leider oft schneller als erwartet. Etwa wenn sich die Politsatire als strukturell antisemitisch entpuppt (Schauspiel Köln, Vögel, 2021) oder die freshe Klassikerüberschreibung stumpfen Tea-Party-Humor feiert (ebenda, Der eingebildete Kranke, 2022).

Wie immer zum Saisonauftakt werden die Theater-Intendant*­innen in ihren Relevanz-Reden verbal auf die Barrikaden gehen, bis Kapitalismus und Patriarchat mit den Zähnen klappern

Das muss aber nicht so sein. Und vielleicht hilft hier die rechtzeitige Theater-Reiseplanung. Denn irgendwo sind sie dann ja letztlich doch versteckt, diese unwahrscheinlichen Highlights, die eine Analyse der Verhältnisse nicht nur behaupten, sondern schmerzlich spürbar machen, die dir für einen Moment den Glauben an die Menschheit zurückgeben, oder zumindest an die Kunst. Es gilt eben nur, sie zu finden.

Hier also ein Routenvorschlag für die Suche — ohne Garantie, weil Glaskugeln die Zukunft, allen Versprechungen der Hersteller zum Trotz, leider immer noch nur verschwommen abbilden.

Wir starten mit hoher Begeisterungs-Wahrscheinlichkeit in Bochum bei Saara Turunen und »Früchte der Vernunft«. Wenn das neue Stück der Autorin und Regisseurin für drei Frauen, zwei Männer, ein Ei und einen Storch nur ansatzweise mit ihrem letzten, »Das Gespenst der Normalität«, vergleichbar ist, sind analytische Schärfe, leiser Humor und eine eigenwillige Regiehandschrift zu erwarten. Ihr Thema diesmal: der weibliche Körper. Es geht um Fruchtbarkeit, Reproduktion und Kinderlosigkeit, um Vernunft und um Lust, um politische Verhältnisse und individuelles Erleben. Turunens Theater ist tendenziell wortkarg: Es vertraut der Wirkmacht seiner oft surrealen Bilder, die im »Normalen« die grausamen Mechanismen gesellschaftlicher Zurichtung offenlegen. (ab 1.9.23, Schauspiel Bochum)

Nach einer gut gelaunten politischen Ansage klingt auch der Titel der Eröffnungspremiere der neuen Intendanz von Christina Zintl und Selen Kara in Essen: »Doktormutter Faust« von Fatma Aydemir. Kara selbst setzt die Überschreibung in Szene — und das ist eine bewährte Konstellation: 2020 hat sie Aydemirs Bestseller »Ellbogen« am Nationaltheater Mannheim inszeniert — mit präzisem Gespür für das Spiel mit und gegen Klischees. In »Doktormutter Faust« erzählt Aydemir nun den deutschen Überklassiker neu — aus Sicht einer feministischen Professorin, die die Wissenschaft gegen Verschwörungsgläubige verteidigen muss. Als ihr dann Teufel*in Mephisto den höchsten Genuss verspricht, verliebt sie sich leider fanatisch in einen jungen Doktoranden und es stellt sich die Frage, »Nun sag, wie hast du’s mit dem Konsens?« (ab 9.9.23, Grillo-Theater)

Weiter geht es ans Theater Dortmund, wo Murat Dikenci, in Anlehnung an Camus’ »Die Gerechten«, die Untergrundbewegung »Die Gerächten« auf die Bühne bringt. Eine Setzung, die für reichlich Diskussionsstoff sorgen wird, denn bei der fiktiven Gruppe handelt es sich um eine gewaltbereite migrantische Organisation, die dem rechten Terror in Deutschland Kontra geben will. Im Stil klassischer Widerstandsdramen stellen sich Dikencis Pro­tagonist*innen die Frage, ob, wie und in welchem Ausmaß Gerechtigkeit durch Gewalt hergestellt werden kann oder darf. (ab 3.9.23, Theater Dortmund)

Stichwort rechter Terror, zu diesem Thema empfiehlt sich ein Stopp in Düsseldorf. Genauer in »Dunkeldorf«, einer dokumentarischen Stückentwicklung, uraufgeführt beim asphalt-Festival. ­Autorin Juliane Hendes und das Kollektiv »Pièrre-Vers« rekonstruieren darin den Bombenanschlag am S-Bahnhof Wehrhahn, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Anhand von Interviews und Recherchen zeichnen sie ein vielstimmiges, forderndes Bild der Ereignisse, das pars pro toto für ein Grundproblem der Bundesrepublik stehen kann: für das ewige Unterschätzen, ­Relativieren, Ignorieren und hier und da Verschleiern rassistischer und antisemitischer Anschläge. (ab 19.9. wieder im 34 OST)

Wir bleiben in Düsseldorf und in der freien Szene, wechseln aber ans FFT. »Resurrect in Peace (R.I.P.)« verspricht eine »zärtlich-unheimliche Begegnung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren«. Perfomancekünstler*in Anan Fries wird als Symbol des Artensterbens die vor 100 Jahren ausgerottete Wandertaube zu neuem Leben zu ­erwecken — oder verabschieden. Fries arbeitet seit Jahren, unter anderem mit dem Gametheater-Kollektiv »machina eX«, an der Schnittstelle zwischen Digitalität, Schauspiel und Gesellschaft. Für »R.I.P« werden die Bewegungen dreier Spieler*innen via Motion Tracking virtualisiert. Es darf davon ausgegangen werden, dass das nicht aus bloßer Technikbegeisterung geschieht, sondern die politische Reflexion des Mediums sowie der Idee einer digitalen Wiederauferstehung selbstverständlich Teil der Perfomance sind. (ab 1.9.23, FFT)

Zurück nach Köln. Hier untersucht das Analogtheater in seiner neusten Arbeit, wie Geschichte gewaltsam ins Private eindringt und über Generationen verheerende Spuren hinterlässt. »Mein Vater war König David« rekonstruiert die Familienhistorie einer der Performer*innen seit der Shoa. Erst nach dem Tod ihres Vaters erfuhr sie von ihren jüdischen Vorfahren und stellt nun Fragen nach »Identität, Familie und dem Ich in der Zeit«. (ab 7.9.23, Orangerie)

Ebenfalls in Köln verspricht die Komödie »Eigentum (Let’s Face It We’re Fucked)« eine grundlegende Auseinandersetzung mit ebendiesem. Auf den Spuren der Basis des Kapitalismus springt Thomas Köck in bewährter Manier zwischen symptomatischen Events hin und her: der glücklosen Aneignung einer allzu aktiven Vulkaninsel im Jahr 1773, einer Hausbesichtigung durch hunderte Kaufinteressierte heute, und einer irritierenden, 2.000 Jahre entfernten Zukunft. Freuen darf man sich auch auf die konzise Regie von Marie Bues, die schon diverse Stücke des Autors inszeniert hat, zum Beispiel Klimatrilogie in ­Hannover. (ab 29.9.23, Depot 1)

Dann also doch: Ab ins Theater!