Krank genug?

Die verzweifelte Suche nach einer Psycho­therapie in Köln

Es steht nicht gut um die mentale ­Gesundheit der Kölner Bevölkerung. Die Zahl der diagnostizierten ­psychischen Erkrankungen wächst, die Zahl der Therapieplätze nicht. Viele Fachleute wissen, dass das Gesund­heitssystem damit über­fordert ist. Aber sie sehen kaum Möglich­keiten, daran etwas zu ­ändern. Wie schlagen sie sich trotzdem durch?

Wer sich in diesen Wochen dort umschaut, wo Menschen unmittelbar mit den psychischen Folgen der Corona-Pandemie zu tun haben, stößt auf durchweg alarmierende Einschätzungen. Die Schulen sind überfordert, die Wartezeiten bei Therapeut:innen und Kliniken lang, manche Angehörige und ganze Familien am Rande des Zusammen­bruchs. »Ich glaube, dass uns da noch einiges bevorsteht«, warnt Katrin Schilling, leitende Sozialarbeiterin in einer Kölner Beratungsstelle.

Viele Zahlen stützen Schillings Einschätzung. Unter anderem sind Magersucht-Diagnosen, die Zahl der Angststörungen, und von depressiven, emotionalen und Verhaltensstörungen überproportional angestiegen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Dabei sind wegen der (auch schon vor der Pandemie) monatelangen Wartezeiten bei Psychotherapeut:innen viele Fälle noch gar nicht in den Daten der Krankenkassen sichtbar.

Sind das die Folgen des jahrelangen Ausnahmezustands? Wie gut ist unser  Gesundheitssystem darauf ausgelegt? Für diesen Text haben wir mit Therapeut:innen gesprochen, mit Funktionär:innen, und mit denen, die in Sozialpsychiatrischen Zentren, in Jugendeinrichtungen oder in der Schule versuchen, psychischen Krankheiten niederschwellig entgegenzuwirken. Unsere Gespräche ­legen eine kurze Antwort nahe: Es sieht nicht gut aus.

Psychische Pro­bleme sind nicht allein eine Aufgabe für Thera­peut:innen, sondern müssen auch außer­halb des Gesund­heits­­systems zum Thema werden

»Corona hat nicht so sehr neue Patienten erzeugt, ­sondern die Situation ans Licht gebracht. Die Versorgung war schon immer mangelhaft«, sagt Gerd Höhner vom Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW. Er spricht eine Warnung aus, die viele äußern. Insbesondere die Prävention bei Kindern und Jugendlichen komme viel zu kurz. »Das ist eine Zukunftsaufgabe. Wenn wir die nicht angehen, wird uns das auf die Füße fallen«, so Höhner.  

Betroffen vom Mangel an Therapeut:innen sind vor allem Kassenpatient:innen, also rund 90 Prozent aller Versicherten. Für die Behandlung von Privatpatient:innen gibt es keine Obergrenze und damit in der Regel auch ­keine Wartezeiten für eine ambulante Therapie. Die Praxen können frei entscheiden, wie viele Selbstzah­lende sie annehmen.

Die Krankenkassen dagegen verhandeln mit den Ärzt:in­nenverbänden, mit wie vielen niedergelassenen Therapeut:innen sie in einer Region zusammenarbeiten. Diese Kassensitze und damit das Budget für Kassen­patient:innen, die in einer Praxis pro Quartal behandelt werden können, ist begrenzt. 1999 wurden diese Sitze erstmals für Psychotherapeut:innen zugewiesen. »Man hat damals den Ist-Zustand als bedarfsgerecht definiert«, sagt Gerd Höhner, obwohl die Zahl nicht ausgereicht habe.

Das hat sich seitdem nicht wesentlich verändert. Neue Sitze werden so gut wie nie eingerichtet. Die tatsächliche Zahl der Erkrankten in einer Region spielt bei der Planung bis heute keine Rolle. Wenn sich jemand, dem damals ein Sitz zugeteilt wurde, zur Ruhe setzen will, verkauft er oder sie ihren Sitz nicht selten für einen sechsstelligen Betrag. Das stellt den Nachwuchs vor Probleme und begrenzt die Diversität in diesem Beruf.  Nur wer ausreichend Geld und Verbindungen hat, kann einen Kassensitz erwerben. Von Transparenz und fairem Wettbewerb kann keine Rede sein. Kammerpräsident Höhner spricht von Mauscheleien.

»Corona hat nicht so sehr neue ­Patienten erzeugt, sondern die ­Situation ans Licht gebracht. Die ­Versorgung
war schon immer ­mangelhaft!«
Gerd Höhner, Psychotherapeuten­kammer NRW

Eine junge Psychotherapeutin, die ihren Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, erzählt uns, wie das konkret funktioniert. Der Preis für einen Kassensitz kann frei verhandelt werden, trotz künst­licher Knappheit. »Ich habe 80.000 Euro für einen halben Kassensitz bezahlt«, sagt sie. Ihre Vor­gängerin, der sie den halben Sitz abgekauft habe, habe sie dann dem Ausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, der über die Vergabe der Sitze in Köln entscheidet, als Nachfolgerin empfohlen. Die angehende Therapeutin habe einen Kredit aufgenommen und einen Übernahmevertrag abge­schlossen. Ihren Pati­ent:in­nen­stamm muss sie sich nun selbst aufbauen. Sie spricht trotzdem von einem vernünftigen Preis. »Für den innenstadtnahen Stadtteil, in dem die Praxis liegt, habe ich Glück gehabt«, sagt sie.

Die junge Therapeutin erzählt, dass sie in ihrer Aus­bil­dungsgruppe mit einer weiteren Frau die einzige Person aus einer Einwandererfamilie war. Paradox ist, dass sie jetzt ein Interesse daran hat, dass sich dieses System nicht ändert. »Der Sitz ist Teil meiner Altersvorsorge«, sagt sie. Dafür muss sie ihn irgendwann weiterverkaufen können.

Eine bedarfsgerechte Versorgung für die Patient:innen ergibt sich daraus nicht. »Einen Platz zu bekommen, ist Glückssache«, sagt die Therapeutin. In den Erstgesprächen, die sie anbieten muss, seien 90 Prozent der Fälle behandlungsbedürftig. Mehr als einen Wartelistenplatz könne sie vielfach nicht anbieten. Wie sie die Menschen priorisieren werde, wisse sie noch nicht.

Wer in Köln psychisch so krank ist, dass eine statio­näre Behandlung notwendig ist, muss als Kassenpatient:in ebenfalls mit Wartezeiten rechnen oder in akuten Fällen mit dem  sprichwörtlichen »Bett auf dem Flur« vorliebnehmen. Susanne Jost führt die Geschäfte des St.-Agatha-Krankenhauses in Niehl. Seit 2017 spezialisiert sich ihr Haus auf psychische Krankheiten. Vom Veedelskrankenhaus zur Fachklinik: Politisch ist das gewollt, auch wenn die Bevölkerung solche Entwicklungen anderswo kritisch sieht. In St. Agatha haben sie den psychosomatischen Schwerpunkt um die Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie sukzessive ausgebaut. Die Klinik wurde um eine Tagesklinik mit 22 Plätzen und eine Instituts­­ambulanz erweitert und die anderen Abteilungen geschlossen. Aus 40 Betten wurden 55, dann 76. Doch auch das reicht nicht: »Wir sind überbelegt. Das führt dazu, dass wir oft nur akute Patienten aufnehmen können«, sagt Jost.

Derzeit verhandeln Krankenkassen, Verbände und die Landespolitik über die Umsetzung des neuen Kranken­hausplans. Jost und ihr Haus haben 20 zusätzliche Betten und Plätze beantragt. Aber: »Es ist jetzt schon klar, dass das auch mittelfristig nicht reichen wird«, sagt sie. Die Zahlen, mit denen geplant wird, stammen aus 2019. Die Pandemie spiegelt sich darin ebenso wenig wie das absehbare Wachstum von Köln. Im Einzugsbereich von St. Agatha sind neue Stadtteile wie Kreuzfeld mit tausenden zusätzlichen Einwohner:innen geplant. Und selbst wenn sie zusätzliche Kapazitäten anbieten könnten, sei es schwer, die nötigen Mitarbeiter:innen zu bekommen.

Die zuständigen Ärzt:innen würden schon heute genau abwägen, welche Fälle am dringendsten eine stationäre Behandlung brauchen, sagt Jost. Die weniger akuten Fälle würden leider schon mal drei Monate warten müssen. In dieser Zeit, so ihre Erfahrung, seien Freundes­kreise und Familien sehr damit gefordert, die Kranken aufzufangen.


Die Kommune verfolgt die Planungen, wird angehört, hat aber effektiv keinen Einfluss. Matthias Albers ­leitet die Abteilung für Sozialpsychiatrie im Gesundheitsamt der Stadt und ist Sprecher des bundesweiten Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste. Er sieht Engpässe bei der ambulanten und stationären Versorgung durch den massiven Fachkräftemangel, der sich für »die nächsten Jahrzehnte« abzeichne. Doch Albers versichert: »Wer dringend Hilfe braucht, bekommt sie.« Er sieht Potenziale in der besseren Kooperation von Kliniken und Kommunen vor Ort und im gezielten Einsatz des knappen Personals.

Musa Deli sieht das anders. Er leitet das Kölner Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten in der Schaafenstraße. Seine Aufgabe ist, die Versorgung von Menschen aus Einwandererfamilien zu verbessern. »Kranke Menschen sollten behandelt werden«, sagt Deli und prangert an, dass das derzeit bei psychisch Kranken nicht möglich sei.

Corona, Krieg und die Erdbebenkrise in der Türkei seien die Gründe, dass immer mehr Besucher:innen in seiner Einrichtung Hilfe suchen. Deli zählt die Probleme auf: Angststörungen, Suchterkrankungen, Zwangsneurosen, Zukunftsängste, Verschuldung, die Gefahr von Selbst- und Fremdgefährdung, »völlige Antriebslosigkeit«. Nachhaltige Hilfe sei kaum zu vermitteln. Das Warten auf einen Platz bei türkischsprachigen Therapeut:innen könne drei bis fünf Jahre dauern. Für andere Gruppen wie Kurd:innen, Perser:innen oder Afghan:innen sei es noch schwieriger. In der Zwischenzeit helfen er und seine Mitarbeiter:innen ihren Klient:innen mit eher kurzfristigen therapeutischen Interventionen, um sie in akuten Krisen aufzufangen.

»Das Warten auf einen Platz bei türkischsprachigen Therapeut:innen kann drei bis fünf Jahre dauern. Für Kurd:innen, Perser:innen oder Afghan:innen ist es noch schwerer«
Musa Deli, Gesundheitszentrum für ­Migrantinnen und Migranten

Auch an den Schulen dürften die Zweifel berechtigt sein, ob wirklich alle die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Das liegt nicht nur an den fehlenden Behand­lungskapa­zitä­ten. Offenbar fehlt es an einem gesellschaftlichen Bewusstsein für die Zustände. Zwei Selbstmorde am Alber­tus-Magnus-Gymnasium in Neuehrenfeld während der Pandemie rüttelten die Kölner Schulgemeinden auf. Die Schulleitungen hatten im Januar mehr Unterstützung gefordert, die Kölner Ratsparteien hatten die Verwaltung kurz darauf beauftragt, einen Fördertopf für Präventions- und Beratungs­angebote aufzusetzen. Oft sind Vertrauenslehrer:innen die einzigen Ansprechpersonen, und das quasi nebenbei.

Die Schulpflegschaft der Kölner Gymnasien wandte sich jüngst mit einem Offenen Brief an die Stadt und an die für Lehrer:innen zuständige Bezirksregierung — ein weiterer Hilferuf. Die Verfasser:innen schildern ­einen »signifikanten Anstieg von Depressionen, Angst- und Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und Gewalt sowie eine erhöhte Suizidalität« und fordern Präventionsangebote, mehr Schulsozialarbeit, mehr Fort­bildungen, Entlastung von anderen Aufgaben und Supervision für die Lehrkräfte.

Safiya Larhtami gehört zum Vorstand der Bezirksschüler:innenvertretung (BSV). Welcher Druck auf ihr und ihren Mitschüler:innen lastet, sei den meisten nicht klar, sagt Larhtami. »Wir werden dauerhaft mit Stoff zugeballert. Dass ­jemand weint in der Klausur oder eine Panikattacke bekommt, kommt inzwischen ständig vor.«

Seinen Ursprung mag der große Druck noch in der G8-Reform haben. Die Pandemie habe ihn aber verschlim­mert. »Das war eine pur depressive Zeit. Die ganze Welt stand schief«, sagt Larhtami, die im Frühjahr ihr Abitur bestanden hat. Unter den Schüler:innen sei das eigene Wohlbefinden inzwischen ein Thema, Gelegenheiten zum Austausch gebe es jedoch kaum. Im Gegenteil: Immer wieder würden Ausflüge mit Verweis auf das Lernpensum abgesagt.

»Den jungen Menschen geht es schlecht. Und das System Schule ist darauf zu wenig vorbereitet«, sagt Thorsten Buff, Geschäftsführer des Kölner Jugendrings, in dem die freien Träger der Jugendarbeit organisiert sind. Am Beispiel Schule zeigt sich womöglich am deutlichsten, dass Probleme mit mentaler Gesundheit nicht nur eine Aufgabe für Therapeut:innen sind, sondern auch außer­halb des Gesundheitssystems zum Thema werden müssen, und bestenfalls nicht nur, solange die Versorgung mangelhaft bleibt.

»Alle mit Bezug zu Schule wollen, dass sich etwas ­ändert. Das Thema kommt endlich ins Rollen«, lautet Larhtamis Fazit nach einem Fachtag im vorigen November, der mit hunderten Schüler:innen, Lehrkräften und Eltern überraschend gut besucht war. Auch im Landtag hat Larhtami ihre Einschätzung schon präsentiert. Dennoch habe sie immer noch das Gefühl, Bund, Land und Kommune würden die Verantwortung den jeweils anderen Ebenen zuschieben.

Thorsten Buff vom Jugendring, der den Fachtag mit­organisiert hat, spricht sich dafür aus, Präventionstage zu etablieren, die für mentale Gesundheit sensibilisieren sollen, ähnlich wie für die Gefahren von Zigaretten und Alko­hol. Psychische Störungen rechtzeitig zu erkennen und Erkrankungen zu verhindern, müsse das Ziel sein. »Auch im Lehrplan hat das Thema seine Berechtigung«, sagt er. Das würde nicht zuletzt die Therapeut:innen entlasten. Buff wirbt für die außerschulischen Angebote der Jugend­arbeit. Sie seien ein notwendiger Ausgleich zum Leistungsdruck. Angesichts der größtenteils guten ­Jobaussichten der jüngeren Generationen könne er ­diesen ohnehin nicht nachvollziehen. »Wir müssen die jungen Menschen nicht in diese Erwartung pressen«, sagt er.

»Die Pandemie war eine pur depressive Zeit. Die ganze Welt stand schief«
Safiya Larhtami, Bezirks­schüler:innenvertretung

Auch wenn die Stadt Köln nicht mehr Plätze in der Therapie oder psychiatrischen Kliniken schaffen kann, ist sie verpflichtet, die psychische Gesundheit der Einwohner:innen zu unterstützen. Gemeindepsychia­trie heißt das Konzept, das eine möglichst wohnortnahe Betreuung sicherstellen soll. Der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt gehört dazu: städtische oder Mitarbeiter:innen von freien Trägern, medizinisches Personal und Sozial­arbeiter:innen, die Menschen zuhause besuchen, Termine organisieren helfen und auch akut Hilfe vermitteln. Sie werden ergänzt von den Sozialpsychiatrischen Zentren (SPZ), die es in jedem Bezirk gibt.

Die SPZ sind aus der psychiatriekritischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre hervorgegangen. Sie bedeuteten eine Abkehr vom früher üblichen Umgang mit psychisch Kranken, die in Einrichtungen vor den Toren der Stadt weggesperrt wurden. Stattdessen sollen sie nach ­einem heute anerkannten Leitbild in ihrer gewohnten Umgebung betreut werden. Die SPZ helfen bei Behördengängen, bei der Wiedereingliederung nach einem stationären Aufenthalt (insbesondere um Obdachlosigkeit zu vermeiden), bieten Tagesstruktur, Gesprächskreise, Beratung, Vermittlung in Wohngruppen, Platz für Selbsthilfegruppen und Angehörigenarbeit, oder manchmal auch schlicht nur ein offenes Ohr bei einem Kaffee.

Ihre Aufgaben sind vielfältig, die Kostenerstattung so mannigfaltig wie bürokratisch. Allein deshalb sind die Mitarbeiter:innen vermutlich unersetzlich. Dank Bundes­mitteln konnten nach einem Ratsbeschluss im März vorigen Jahres zusätzliche Stellen eingerichtet werden. Und die werden dringend benötigt. Seit Corona sind die Anfragen für Beratungen in den SPZ deutlich gestiegen. Von bis zu 60 Prozent mehr ist die Rede. Mit den niedrigschwelligen und oft anonymen Angeboten können die Zentren helfen, die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken. Eine Ersteinschätzung können sie in jedem Fall leisten, oft mit Unterstützung der Ärzt:innen des sozialpsychiatrischen Dienstes, ebenfalls eine kommunale Pflichtaufgabe.

»Es wäre schön, wenn mehr Patient:innen wüssten, dass es uns gibt«, findet Katrin Schilling. Sie leitet seit vori­gem September das Zentrum in Ehrenfeld, und ist als eine der wenigen jüngeren Koordinatorinnen wohl auch Vorbotin eines Generationswechsels. Wie viele SPZ liegt das Ehrenfelder Zentrum mitten im Veedel. Der Weg dorthin führt an Kaffeebud und Hipster-Boutique vorbei in einen Hinterhof, der an den großen und immer vollen Spielplatz in der Glasstraße grenzt.

Die Lage schätzt auch Kurt Eusterholz. Seine Geschichte erzählt er in präzisen, überlegten Sätzen und nicht zum ersten Mal. Seine Diagnose nennt er gleich zu Beginn: Psychose und Angststörung mit Depression. »Ich war schon zehn oder elf Jahre krank, bevor ich in Behandlung kam«, sagt er. Er fühlte sich verfolgt, hatte Angst, jemand würde ihm Gift ins Essen mischen. Mit der Krankheit konnte er lange nicht umgehen, zog sich zurück, auch aus Scham. Seinen Job als Chemikant habe er aufgeben müssen. Angebote im Betrieb für Mitarbeiter:innen mit psychischen Problemen habe es keine gegeben. »Das hat schon gefehlt, jetzt, wo Sie mich fragen«, sagt er. Seit 1987 sei er nun in Behandlung.

Nach einem Klinikaufenthalt hat er sich das Zentrum angeschaut und kommt seitdem regelmäßig, mehrmals in der Woche. Zehn Minuten dauert die Fahrt aus Bocklemünd. Die Besuche geben seinen Tagen die Struktur, die mit der Arbeit weggefallen war. »Ich bin froh, selbstbestimmt leben zu können«, sagt er. Er kümmere sich um seine Mutter, die bei ihm lebe.

Kurt Eusterholz ärgert sich, dass es ihm lange so schwer gefallen sei, über seine Krankheit zu sprechen: »Das ist eine große Erleichterung, wenn man zu sich selbst sagen kann: Ich bin krank.« Im Beirat des SPZ vertritt er die Interessen der Besucher:innen. Eines ihrer Anliegen: Sie wollen die Öffnungszeiten ausweiten, damit auch Berufstätige leichter den Weg zu ihnen finden.

Koordinatorin Katrin Schilling hat keine Zweifel, dass sie sich auf mehr Zulauf einrichten müssen. Mit den Folgen der knappen Kapazitäten der Therapeut:innen seien sie längst »an allen Ecken konfrontiert«. Als banales Beispiel nennt sie die fachärztliche Stellungnahme, die vorliegen muss, wenn jemand in das Betreute Wohnen aufgenommen werden soll, und für die ein Therapeut oder eine Therapeutin Zeit finden muss. Von den Sorgen der Angehörigen, die fieberhaft Behandlungsplätze ­suchen, ganz zu schweigen.

»Es wäre schön, wenn mehr ­Patient:innen ­wüssten, dass es uns gibt«
Katrin Schilling, Sozialpsychiatrisches Zentrum Ehrenfeld

Schilling erzählt von Fällen, in denen der Sohn einer Familie mehrere Tage nicht aus dem Zimmer kam, oder von einem Kind, das täglich Stunden unter der Dusche verbrachte. Die Angehörigen wendeten sich hilfesuchend an ihr Zentrum, einen Therapieplatz können sie jedoch nicht vermitteln. »Das bringt Familien an den Rand der Verzweiflung«, sagt Schilling. Sie erkennt die Bemühungen an, die Situation zu verbessern, in den Schulen und auf kommunaler Ebene, fordert aber deutlich mehr Tempo.

So wie Katrin Schilling geht es fast allen, mit denen wir für diesen Text gesprochen haben. Sie sehen den ­Bedarf für psychologische und therapeutische Unter­stützung, aber wissen, dass dieser nicht so schnell erfüllt werden kann. Viele haben daraus längst ihre eigenen Schlüsse gezogen. Lehrkräfte, Eltern und Schüler:innen kämpfen dafür, die Prävention massiv auszubauen. Unter­nehmen kaufen psychologische Unterstützung für ihre Mitarbeiter:innen ein. Die Stadt stockt das Personal in den sozialpsychiatrischen Einrichtungen auf, während die Mit­arbeiter:innen daran arbeiten, mehr Menschen zu ­er­reichen. Es scheint offensichtlich, dass die Hilfe für psychisch Kranke eine Aufgabe für alle sein wird. Sie anzunehmen, würde letztlich auch bedeuten, die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Wenn es um men­tale Gesundheit ging, war sie kein Ausnahmezustand, sondern hat den Normalzustand für alle sichtbar gemacht.