Anadol reflektiert kreativ ihre Verflochtenheit in bestimmte Strukturen und Trends, Foto: Orhan Kolukısa

Neu aufgelegte Erinnerungen

Die Türkin Gözen Atila aka Anadol füllt ihre neue Platte mit ­beschwingtem Tanzsound

Beginnen wir mit der schlechten Nachricht: Nach den beiden umfeierten Auftritten beim Week-End Fest 2021 und der wunderbaren Nacht im Olympia im letzten Sommer wird Köln erstmal auf Auftritte der türkischen Produzentin und DJ Anadol verzichten müssen, denn Gözen Atila, wie die Künstlerin hinter dem Alias Anadol heißt, mag vorerst nicht mehr auflegen. Das stellt für ihre Fans ein Problem dar, denn von Anadol gibt es genauso wenig eine Live-Band oder ein Solo-Set. »Ich habe keine Bühnen-Energie und leide unter Lampenfieber«, erklärt sie im Interview, nur um weiter klarzustellen, dass ihr auch die anderen Aspekte (wie etwa Reisen oder das Wiederaufführen der eigenen Songs) genauso ein Dorn im Auge sind.

So bleibt es bei einer Plattenveröffentlichung, die damit die Last zu tragen hat, das einzige zu sein, was wir 2023 (oder vielleicht auch darüber hinaus) von Anadol zu hören bekommen. Keine Sorge: »Hatıralar« hält das aus. Das Album ist weit davon entfernt ein Schnell­schuss zu sein, es ist vielmehr mit viel Zeit zum Reifen beim Label Pingipung angekommen. Das ­Ausgangsmaterial stammt bereits aus den Jahren 2011/12, eine erste ­Veröffentlichung erfuhr »Hatıralar« 2017 auf dem Label ­eines Freundes aus Ankara. Gemeinsam packte man die Tracks auf einen USB-Stick, denn Atila wollte damals nicht bloß einen ­Digital-Release feiern, sondern ­etwas Handfestes anbieten. Über Umwege landete ein solcher Stick bei einem Berliner Labelbetreiber, der Anadols nächstes Album »Uzun Havalar« auf Kassette veröffentlichen sollte. Diese wiederum wurde Andrea Wienck des umtriebigen Hamburger Pingipung-Labels zugesteckt. »Uzun Havalar« räumte daraufhin als ­LP-Release bei den Hamburgern in Jahresbestenlisten ab, wurde gleich mehrfach neu aufgelegt und war zwischen 2019 und 2021 für nicht wenige auch ein sehr treuer Begleiter während mieser Tage vor und während Corona.

Es war Anadols ureigener ­Umgang mit Folk, Chanson, Jazz, Italo-Rock und Soundtrack, der hier in einer unwahrscheinlichen Mixtur dargeboten wurde: Melancholische Stimmungen trafen auf flippige Ausschweifungen, improvisierter Jazz auf die Preset-Beats der Heimorgel: »Ich liebe diese Beats; alle außer Tango. Tango hasse ich.« Das Album fand in den Wohnzimmer-Clubs auch unserer Domstadt seinen Weg auf die ­Plattenteller — manchmal gleich mehrfach am Abend. Es stört sie dennoch, dass es vielen DJs vor ­allen Dingen um den exotischen Wert ihrer Musik ging, dass man sie unbedingt als türkische Musik lesen wollte. Sie gibt zu: »Daran habe auch ich Anteil. Als die ganzen türkischen Platten der Anadolu-Rock-Phase wiederveröffentlicht wurden, jene von Selda Bağcan und Barış Manço zum Beispiel, habe ich mit einem Freund zusammen in Istanbuler Läden aufgelegt. Ich dachte, Anadol ist ein super Künstlername. Und als er ihn nicht wollte, nahm ich ihn einfach. Ich hatte aber nicht im Blick, wie stark der Mythos ­Anadol ist.«


Ich dachte, Anadol ist ein super Künstlername. Ich hatte aber nicht im Blick, wie stark der Mythos Anadol ist

Hinter dem Namen verbirgt sich nämlich das erste Auto, das vollständig auf türkischem Boden produziert und gefertigt wurde. Und damit ist es Teil des von der AKP propagierten türkischen ­Nationalismus — mit dem Gözen Atila selbstverständlich nichts am Hut hat. Dieser Inanspruchnahme ihrer Musik schiebt Anadol offensichtlich einen Riegel vor: Sie lässt sich nicht vereinnahmen. Sie reflektiert ihre eigene Verflochtenheit in bestimmte Strukturen, Trends und Interessen im besonderen Maße — schon häufiger musste sie nach reiflicher Überlegung Konzertanfragen ablehnen: »Manchmal werde ich nur gefragt, weil ich Türkin bin.«

Diese Introspektionen konnte man derweil auf »Felicita«, dem Nachfolger von »Uzun Havalar«, nachvollziehen: eine frei-drehende Traumsequenz — nah und doch so ungreifbar. Weit weg von  Anadolu, dafür ein fulminanter Mix verschiedener Lied-Traditionen aus Europa und Vorderasien. Auch hier flatterten die Höchstnoten bei den Musikzeitschriften und Blogs gleich ins Haus. Umso irritierender, dass »Hatıralar« wieder andersrum dreht: beschwingter Tanzsound; so als hätte es die ­letzten zehn Jahre nicht gegeben. Das muss man sich erstmal trauen — und  Atila traut es sich. Ein wahrer Star; auch ohne Bühnenauftritte, aber dennoch ein Ereignis.

Anadol »Hatıralar«, (Pingipung/Kompakt)