Scharfer Blick auf Klassenverhältnisse: Anke Stelling, Foto: Wikimedia / Amrei-Marie (cc-by-sa)

Jenseits des Selbstverwirklichungsmilieus

Die Lesereihe »Eine andere Klasse« stellt die ­Klassenfrage auf die Füße

Autofiktionales Schreiben ist ­beliebt. Doch fernab individualistischer Selbstbetrachtungen erheben sich auch vermehrt literarische Stimmen eines Milieus, das von der Literaturwelt lange aus­geklammert wurde: Die Arbeiterklasse hat nicht zuletzt durch das Werk der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux literarisch neue ­Beachtung gefunden. Auch die Kölner Lesereihe »Eine andere Klasse« widmet sich derzeit klassen­politischen Unterschieden in der Gegenwartsliteratur. Organisiert vom Kölner Verein für Literaturvermittlung »Land in sicht« und kuratiert von Kevin Kader, wird an drei Abenden mit jeweils drei Autor:innen über dominierende Milieus und klassenbezogene Diskriminierung in der Literaturszene diskutiert. Nach der Auftaktveranstaltung im Juli, ­lesen die Autor:innen an zwei weiteren Abenden im September aus ihren biografisch gefärbten Texten und gehen dem Einfluss ihrer sozialen Herkunft auf ihre ­literarische Arbeit nach.

Der Konflikt zwischen eigener Biografie und künstlerischer Selbstverwirklichung ist besonders im Werk der Berliner Autorin Anke Stelling spürbar. »Ich weiß, wie schwierig das ist. Wie groß die Sehnsucht danach, es geschafft zu haben, nicht mehr man selbst zu sein und deshalb auch nicht mehr von sich sprechen zu müssen.«

Ihr Roman »Schäfchen im Trockenen« ist die schonungslose Abrechnung einer Aufsteigerin aus einfachen Verhältnissen mit dem großstädtischen Selbstverwirklichungsmilieu. Am zweiten Abend wird Stelling darüber mit Domenico Müllensiefen und Duygu Ağal sprechen. Müllensiefens Debütroman »Aus unseren Feuern« erzählt von einer verlorenen Nachwen­degeneration und Ağals Anthologie »Yeni Yeşerenler« hinterfragt anhand der eigenen Geschichte Identität, Queerness und intersektionale Repräsentation.

Die Zusammenhänge von Queerness und Klassismus ergründet auch Lynn Takeo Musiol in ihren multimedialen Texten. Zusammen mit Daniela Dröscher und einem weiteren Gast liest sie am dritten Abend. »Symptomatisch ist, was sich zur ersten Erinnerung stilisiert. In meinem Fall ist es die Erinnerung an mein Überleben«, schreibt Dröscher in ihrem autobiografischen Porträt »Zeige deine Klasse«. Der Klassenbegriff, er darf mit der Lesereihe »Eine andere Klasse« wieder gedacht werden.