Ich als weiblicher Text: Navid Kermani Foto: Peter-Andreas Hassiepen / München

Von A wie ­Altenberg ...

Navid Kermanis Roman »Das Alphabet bis S« handelt von Verlust und ungelesenen Büchern

Unter allen Buchstaben des Persischen liebe sie das weiche »dsch«, das der deutschen Sprache leider fehle, am meisten, schreibt die namenlose Ich-Erzählerin. »Dschudscheh«, übersetzt »Küken«, habe ihre iranische Mutter sie in ihrer Kindheit liebevoll genannt. Doch jetzt ist die Mutter verstorben, und die erwachsene Tochter, Schriftstellerin und selbst Mutter eines Sohnes, will sich zum Ende des Trauermonats alle Autor:innen vornehmen, die ungelesen in ihrem Bücherregal vermodern. Ihre Gedanken beschließt sie in einem Tagebuch festzuhalten, über 365 Tage hinweg. »Das Alphabet bis S« heißt das neue Buch des Kölner Autors Navid Kermani, das we­niger Roman denn literarisches Kong­lomerat aus dringlichen Fragen unserer Zeit ist.

Identität, Krieg und Vergänglichkeit sind nur einige der Themen, denen sich die Erzählerin ausgerechnet über die von ihr bis dahin unbeachteten Werke der Welt­literatur nähern möchte. Alpha­betisch arbeitet sie sich durch ihr Bücherregal: Peter Altenbergs ­Sexismus erscheint ihr zwar trostlos und seine Pädophilie abstoßend, doch kann sie seinem marxistischen Blick auf die Moderne auch etwas Richtungsweisendes abgewinnen. Attila Bartis wird zu einem verbündeten Beobachter und Emil Ciorans Notizen seien zwar stellenweise so ermüdend wie die Lektüre eines Telefonbuchs, aber dessen Verweis auf die amerikanische Dichterin Emily Dickinson wird für die Erzählerin zur bedeutendsten literarischen Ent­deckung: »Es ist, als liefe ich durch ein Wunderland: Jeder, den ich treffe, sagt, wo es noch herrlicher wäre, und eben das ist ja eine Bibliothek, so gesehen ein Paradies, weil jede Erfüllung eine weitere verspricht, das Glück unendlich ist.«

Die Entfremdung ist der Preis der Freiheit, den ihre Eltern mit der Flucht gezahlt haben

Immer wieder wird das eigene Bücherregal für Kermanis Erzäh­lerin zum Zufluchtsort vor den alltäglichen und existenziellen Sorgen. »Es ist viel­leicht nur ein Verstanden­werden, das mich in den Regalen umgibt, also dass seit fünf­tausend Jahren nicht alleine ist der Mensch.« Denn einen Halt benötigt die Erzählerin dringend, die ein Jahr voller tief­greifender Umbrüche durchlebt. Neben dem Tod der Mutter, muss sie nicht nur die Trennung von ihrem Ehemann, sondern auch eine lebensbedrohliche Strepto­kokken­infektion ihres Sohnes verarbeiten. »Es ist ein schlimmes Jahr, und nur nach menschlichem Ermessen steht fest, dass es nicht noch schlimmer kommen wird.« Die erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin ordnet sie den familiären Bedürfnissen unter, nicht zuletzt auch, weil der vereinsamte Vater nach dem Tod der Mutter einer intensiveren Pflege bedarf, was schließlich auch noch zum Konflikt mit ihren zwei Schwestern führt. »Das gehört zu den Erkenntnissen, die ich nicht aus Büchern gelernt habe, sooft ich davon las: Der Tod eint nicht, er trennt.«

Trost sucht die Erzählerin ­daher auch in der Religion, aber nicht nur in den Suren des Korans, sondern genauso in den Schriften über das Christen- und Juden­tum. Bei der Lektüre des französischen Schrift­stellers Julien Green sinniert sie über die Möglich­keit einer gött­­lichen Existenz, die auf­wühlenden Memoiren des französischen Etho­logen und Shoah-Über­lebenden Boris Cyrulnik bringen sie um den ersehnten Schlaf. Die zwölf­seitige Tirade des ungarischen Schrift­stellers Péter Nádas gegen Gott tangiert ihren Glauben indessen nur wenig. »Religion ist der Umgang mit dem Schrecken, der die Natur ist«, notiert die Erzählerin an Tag 238. Selbst im Chaos versuche sie noch eine Ordnung zu entziffern. Der Glaube, er ist in Kermanis Werken überall präsent. Bereits in seinen früheren Schriften schlägt der habilitierte Orientalist immer wieder eine Brücke zwischen Orient und Okzident, Moderne und Religion — wie in seiner Essay­sammlung »Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen« oder zuletzt mit seinem Gesprächs­band »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott.«

Die Annäherung zwischen den Kulturen, dem Leben in Deutschland und der Vergangenheit im Iran, dokumentiert die ­Erzählerin als ein an­dauerndes Gefühl der Zerrissen­heit und Fremd­heit, und zwar gegen­über beiden Ländern. »Jedes Mal fühle ich mich fremd in Deutsch­land«, schreibt sie, genauso wie sich für sie auf ihrer Reise nach Teheran vieles befremd­lich anfühlt — vor allem, dass die Mehr­heit der Frauen noch immer ein Kopf­tuch trägt. Die Entfremdung ist der Preis der Freiheit, den ihre Eltern mit der Flucht in ein anderes Land und der Hoff­nung auf ein besseres Leben gezahlt haben. Umso mehr weiß die Erzählerin ihre Arbeit als Schrift­stellerin zu schätzen. Denn das Privileg des Schreibens sei das Resultat der »Zeit, die mir der Frieden in Europa schenkt«, schreibt sie. »Freier als vor dem Bücher­regal kann der Mensch gar nicht sein.« Doch dass diese Freiheit längst nicht allen Menschen gewährt wird, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben ihre Heimat verlassen, weiß die Erzählerin selbst. Daher ist die europäische Flüchtlings­politik genauso Thema ihrer Aufzeichnungen, wie die Kölner Silvester­nacht 2015. »Meine Tage sind neben den Büchern in den Regalen nun einmal das Material; nur wenn sich beides ineinander­legt, Leben und Lektüren, bildet sich ein weiteres Werk, das zwischen A bis Z eingereiht wird.«

Und so mischen sich unter die Notizen der Erzählerin nicht nur die Stimmen ihrer Lektüren, sondern auch die des eigenen Ver­fassers. Der Vor­wurf der Erzählerin an die Literatur­kritik, den Autor im Werk wieder­erkennen zu wollen, lässt sich für Kermanis Roman selbst nicht umgehen — zu eindeu­tig sind die Parallelen: Die iranische Herkunft der Eltern, seine Geburts­­stadt Siegen, die im Buch eher ­beiläufig erwähnt wird, die literarischen Vor­lieben wie Jean Paul oder Hermann Hesse, die Themen der eigenen Schriften und natürlich der Schau­platz Köln. Bereits in seinem Roman »Dein Name« hat Kermani die eigene Person als Erzähl­figur in den Mittel­punkt ­gestellt. Doch auch hinter der weib­lichen Perspektive lässt sich Kermanis unverwechsel­bare Erzähl­stimme eines ewig fragenden und suchenden Ich nicht verkennen. »In meiner Kammer«, heißt es in einem Gedicht von Nelly Sachs, mit dem die Erzählerin ihr Schreib­experiment abschließt, »kniet das Universum wie überall, um erlöst zu werden von der Unsicht­bar­keit –« und weiter: »Ich mache einen Strich, schreibe das Alphabet ...« »Das Alphabet bis S«, es reiht sich ein in das Regal der zu lesenden und nicht zu über­lesenden Bücher. 

Roman

Navid Kermani: »Das Alphabet bis S«
Hanser, 592 Seiten, 32 Euro

stadtrevue präsentiert
Lesung

im Rahmen der lit.Spezial
So 15.10.2023
Klaus-von-Bismarck-Saal, 20 Uhr