Gefühle, Erfahrungen, Rituale: Naïssam Jalal und ihr Quartett

Auf Kur im Global Village

Naïssam Jalal spielt in ihrer grenzüberschreitenden Musik »Healing Rituals«. Mit denen ist sie bald in Köln zu hören

Ende der 80er Jahre hatte der Wuppertaler Bassist und Improvisator Peter Kowald eine geniale Idee: Er war schon lange als Weltenbummler unterwegs, hatte kein festes Ensemble mehr, dafür aber unglaublich viele Kontakte — weltweit. ­Kowald erklärte kurzerhand sein Netzwerk zur Band, zum globalen Improvisationskollektiv. Zusammengehalten von ihm in seinem Elberfelder Loft — das schon; aber der Spirit dieses Kollektivs war, dass jede von Kowald eingeladene Musikerin, jeder Musiker aus allen möglichen Ecken und Winkeln dieser Welt ihre/ seine Erfahrungen, Klänge, Bilder ungeschmälert in die gemeinsamen Improvisationen einbringen konnte. Global Village nannte Kowald diese Idee einer — in der Tat — Weltmusik. In der Improvisation kommen die unterschiedlichen Identitäten der Musiker zusammen und heben sich auf, ergänzen und durchdringen sich gegenseitig. Das ist auch das große Thema von Naïssam Jalal.

Als die 1984 geborene Pariserin ihren Weg einschlug, Flötistin und Bandleaderin zu werden, war Kowald gerade — viel zu früh — verstorben. Sie wäre eine ideale Mitstreiterin für das Global Village geworden. Denn ihre Musik ist Trauer- und Erinnerungsarbeit, Selbstvergewisserung und Öffnung ins Freie. Konkret: Es war die Musik, durch die Französin ihre syrischen Wurzeln erforscht hat; und es ist das Medium der Improvisation, in dem sie arabische Rhythmen und Melodien, Jazz-Harmonien und die Klangästhetik von Trance und Ambient zusammenfinden lässt.

Eben — zusammenfinden und nicht verschmelzen. Ein Unterschied! Denn die Musik von Jalal ist gestochen scharf, hochpräzise gespielt, die einzelnen Stimmen sind immer zu erkennen, man hört, wie sich Flöte und Cello annähern und umgarnen, wie tastend, aber doch mit festem Schritt Percussion und Bass voranschreiten. Hierin liegt denn auch der Unterschied zur freien Improvisation — Jalal arbeitet auf eine Kammermusik hin, auf die Konzentration des Klanges in einem kleinen Ensemble, das ihre Stücke spielt. Die Offenheit der Musik, das ist der improvisatorische Impetus, ereignet sich in unseren Köpfen — hier evoziert Jalals Musik vielschichtig assoziative Bilder. Weil sie, die Musik, auf einfachen ­Prinzipien beruht, die sich im ­Laufe des Zusammenspiels aber zunehmend verschlingen: Diesen Weg können wir als Hörer immer mitvollziehen. Und — die ­Musik lässt uns den Platz für eigene Phantasien. Sie dominiert nicht, sie ist auch nicht unverbindlich, so nebenher kann man sie nicht hören.

Mit ihrem aktuellen »Healing Rituals« macht Jalal diese Prinzipen explizit. Ausgangspunkt für das Album war eine eigene schmerzvolle Erfahrung: ein längerer Krankenhausaufenthalt. Sie erlebte Isolation, das Abgeschnitten-Sein vom Alltag, aber auch von ihrer Kunst. Der Kollege Clément Petit, Cellist, spielte für sie Stücke ein, und Jalal entdeckte die Kraft von Musik ganz neu. Die Idee für das Album war geboren.

»Healing Rituals« ist aber weit mehr als die Verarbeitung der Zeit der Krankheit, sondern der Versuch, anhand von starken Naturbildern — die Sücktitel verweisen auf Flüsse, den Nebel, Wälder, Winde, die Kraft der Sonne — Rituale zu entwickeln, vorsichtiger: zu skizzieren, die ihrerseits die Kraft haben, Isolation, Orientierungslosigkeit aufzubrechen, das Gefühl der Verlassenheit hinter sich zu lassen. Mit diesen »Ritualen«  haben Jalal und ihr Quartett in Krankenhäusern und Hospizen Konzerte gegeben. In Köln ist es die Stadtgarten-Bühne, auf der sie zu sehen und hören sein wird, aber auch hier wird sie den Raum zu ihrem machen — und unserem.

In der aktuellen auf Jazz und Improvisation basierenden Hybridmusik sind derart emotionale Botschaften, die unumwunden von persönlichen Erfahrungen sprechen, alles andere als selbstverständlich. Schnell steht der Vorwurf von Kitsch im Raum. ­Dafür aber ist die Musik Jalals zu zurückgenommen, zu still und konzentriert. Sie wählt die große Geste — und paradoxerweise ist sie un­prätentiös. Im Global Village der aktuellen Musik ist sie der Safe Space. 

»Healing Rituals« ist auf Les Couleurs Du Son erschienen.
Stadtrevue präsentiert: Sa 30.9., Stadtgarten, 19 Uhr, im Rahmen des Festivals Multiphonics