Im Spiegel der Zeit: Queeres Doppelleben

»Warum kann ich nicht ich selbst sein?«

Filmemacherin Georgia Oakley über ihr Debüt »Blue Jean«, homophobe Politik und queere Coming-outs

Mrs. Oakley, »Blue Jean« handelt von einer lesbischen Sportlehrerin, die in England Ende der 80er zu einem Doppelleben gezwungen ist. Warum haben Sie diese Geschichte gewählt?

Mich hat interessiert, dass queere Menschen und vor allem lesbische Frauen damals oft von ihren Familien verstoßen wurden und ein Leben am Rande der Gesellschaft führen mussten. Was bedeutet es für eine Person, die einen geregelten Beruf hat und sich nicht durch diesen Teil ihrer Persönlichkeit definieren und einschränken lassen will? Auch ich fragte mich beim eigenen Comingout: Warum muss das nun im Fokus stehen, warum kann ich nicht einfach weiter ich selbst sein? Erst später ist mir klar geworden, dass du als queerer Mensch auch eine Verantwortung hast, dich zu positionieren. Im Film wollte ich eine gewöhnliche Frau ins Zentrum rücken, ihren Alltag als Lehrerin und mit ihrer Familie betrachten.

»Blue Jean« spielt im England unter Margaret Thatcher, deren konservative Regierung das Gesetz »Section 28« beschloss, mit der die »Förderung der Homosexualität« in Gemeinden und Schulen verboten wurde. Sie selbst sind 1988 geboren. Wie haben Sie sich diese Zeit erschlossen?

Ich hatte eine klare Vorstellung von der Geschichte, die ich erzählen wollte und dachte, dass es gut sei, sie in einen historischen Kontext zu setzen. Bei meinen Recherchen stieß ich auf Interviews von lesbischen Frauen, die als Sportlehrerinnen arbeiteten, als dieses Gesetz in Kraft trat. Durch persönliche Treffen mischte ich meine Ideen und ihre Erzählungen zu etwas Fiktionalem, das in einem bestimmten Zeitfenster spielt, mit Zeitungsartikeln und Radionachrichten verortet. Vor allem in der Phase, bevor das Gesetz beschlossen wurde, gab es Proteste, über die berichtet wurde. Es ist klar: Wenn die Tageszeitung etwas Negatives über die queere Community schreibt, liest es das gesamte Lehrerkollegium. Ich wollte den Effekt zeigen, den das auf diesen Menschen hat.

Als queerer Mensch hast du auch eine Verantwortung, dich zu positionieren

Die 32-jährige Jean begegnet in einer Bar der deutlich jüngeren Lois. Damit treffen auch zwei Generationen aufeinander, die ein unterschiedliches Selbstverständnis haben.

Wie verschieden wir aufwachsen als queere Menschen, interessiert mich schon länger. Ein Coming-out vor 20 oder 30 Jahren war ganz anders als heute. Und es ist so leicht, sich als Spätgeborene mit einer Person zu vergleichen, die deutlich älter ist. Sie danach zu beurteilen, wie sie ihre Queerness ausgedrückt oder versteckt hat. Mir fiel auf, dass ich genau das tue und begann darüber nachzudenken, wie anders die Lebensumstände damals waren, um zu verstehen, warum Menschen ein Doppelleben führten. Es gab am Set einen regen Austausch zwischen lesbischen Zeitzeuginnen und unseren Darsteller*innen, darunter einige queere Jugendliche, die sich von den Gesprächen ermutigt fühlten, ihren eigenen Weg zu gehen. Das war sehr schön mitzuerleben. Für mich ist das Coming-out kein singulärer Moment, sondern ein fortlaufender Prozess, man muss es immer und immer tun. Es ist nichts, das einem Eltern beibringen. Bestenfalls findet man role models. Ich hatte sie nicht, und der Einfluss ist enorm, den fehlende Vorbilder und mangelnde kulturelle Repräsentation auf unsere Entwicklung haben.

Was sind die Folgen von Section 28 im heutigen Großbritannien?

Das Gesetz galt bis 2003, die Labour-Regierung hat es abgeschafft. 2018 wurde in den Lehrplan aufgenommen, dass Kindern in der Grundschule unterschiedliche Arten von Familien nähergebracht werden, nicht nur das klassische Vater-Mutter-Kind-Modell. Das sorgte für massive Proteste, manche Leute wollten ihre Kinder von der Schule nehmen. Ich sehe diese Haltung als eine Folge des alten Gesetzes, es ist noch immer in den Köpfen vieler Menschen. Ich selbst habe eine sechsjährige Adoptivtochter, die auf eine britische Schule in Madrid geht, wo wir leben, meine Freundin ist ­Spanierin. Und an dieser Schule, die dem britischen Lehrplan folgt, wird kaum etwas über Vielfalt in Familien unterrichtet. Wir haben schon überlegt, ob wir den Lehrer*innen Bücher mitbringen ­sollen, die sie den Erstklässlern vorlesen können. Sonst passiert das einfach nicht. Es gibt noch viel zu tun.

»Blue Jean«, GB 2022, R: Georgia ­Oakley, D: Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday, 97 Min., Start: 5.10.