Grandioser Erzähler vor tristen Kacheln: Tijan Sila, Foto: Christian Werner

Das Ende einer Kindheit

In Tijan Silas autobiografischer Erinnerung »Radio Sarajevo« kommt man dem Krieg ganz nahe

»Und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später, in Deutschland, in Worte zu fassen schaffte: Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.« Der 1981 in Sarajevo geborene Tijan Sila erzählt in seinem neuen Buch »Radio Sarajevo«, wie sich dieses Aushalten auf einen Heranwachsenden aus- und bis heute nachwirkt. Während seine früheren Werke  als Romane gekennzeichnet waren, macht »Radio Sarajevo« von Beginn an klar, dass es sich nicht um Fiktion, sondern um eine autobiografische Erinnerung an die Belagerung der Stadt, die Bombardierungen und seine Flucht handelt. Einige Mo­tive sind bereits aus dem Romandebüt »Tierchen unlimited« bekannt, doch so nah wie in jetzt ist man dem Krieg in seinen Büchern bisher noch nicht gekommen. Reduziert in der Sprache, verdichtet auf die Beobachtungen des zu Beginn neunjährigen Erzählers, konzentriert auf eine Plattenbausiedlung in Sarajevo, deren Bewohner, die Eltern und ihre Freunde.

»Als die ersten Bomben fielen, lag ich bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hörte Radio«, lautet der erste Satz, und nichts wird mehr sein wie zuvor. Der ­Beginn des Krieges 1992 bedeutet das Ende der Kindheit. Als Sila zwei Jahre später mit seiner Familie nach Deutschland flieht, machen sie Halt in Zagreb. Dort kann Tijan es kaum fassen, dass es fließend Wasser gibt. »›Vor dem Krieg hatten wir doch auch ganz normal Leitungswasser‹, sagte mein ­Vater. ›Erinnerst du dich nicht mehr?‹ ›Nicht so richtig‹, sagte ich. ›Wer weiß, was du sonst alles vergessen hast‹« Die Erinnerungen an die Zeit davor, an eine Norma­lität, ist bereits verblasst. Normal ist die Gewalt und der Tod, die Zerstörung und die Hoffnungs­­losigkeit. Gemeinsam mit seinen Freunden durchstreift der Erzähler die zerstörte Stadt, auf der ­Suche nach Lebensmitteln und Pornoheften, die sie mit den Blauhelmsoldaten gegen Zigaretten und Süßigkeiten tauschen. ­Tijan Sila erzählt nebenbei von den Männlichkeitsbildern der bosnischen Gesellschaft, er sieht Menschen sterben, wird selbst ­angeschossen und muss gleichzeitig die einsetzende Pubertät verarbeiten. Mit »Radio Sarajevo« hat er ein beeindruckendes Dokument des Krieges und der ­Gewalt geschaffen.

Tijan Sila: Radio Sarajevo, Hanser ­Berlin, 176 Seiten, 22 Euro