Egal!

Materialien zur Meinungsbildung

Manchmal fragt Gesine Stabroth plötzlich: »Weißte was?« Dann denke ich so für mich: »Na ja... die Hauptstadt der Schweiz ist gar nicht Zürich ist, sondern Bern, und die Atommasse von Kohlenstoff beträgt 12,00 — aber was soll das jetzt? Ich sehe keinen Zusammenhang.« Das sage ich aber nicht. Ich antworte einfach »Nö«. Und dann sagt Gesine Stabroth zum Beispiel ganz aufgekratzt: »Pass mal auf, ich hab totalen Kohldampf, ich dachte es gebe hier was zu essen bei dir, ich geh jetzt mal Pizza holen bei Luigi! Willste auch?«

Als Gentleman alter Schule unterbreite ich der Dame selbstverständlich das Angebot, die Nahrungsbeschaffung selbst in die Hand zu nehmen und sage: »Kann ich auch machen.« Dann aber heißt es: »Hä? Glaubste, ich bin zu doof dafür oder was? Außerdem dauert mir das mit deinem ollen Klapprad zu lange. Also: Welche Pizza?« Und dann ist der Streit fast schon da, weil ich gleich sagen werde: »Mir egal.« Gesine Stabroth wird dann fuchsteufelswild! Und mir kommt der irre Gedanke, dass es womöglich doch stimmen könne, dass man nicht mehr sagen darf, was man will — zumindest bei Gesine Stabroth ist das nämlich oft so. Warum kann mir denn die verdammte Pizza nicht egal sein?

Was ist besser? »Cherrytomaten, Guacamole, Kreuzkümmel, Kalamata-Oliven« oder »Diabolo« mit drei Pepperoni-Symbolen? »Pizza Gyros, vegan« oder »Pizza Chef*in — von allem etwas«? Es ist doch völlig wurscht, ich brauch Grundlage für ein Feierabendbierchen, und die soll warm und nicht zu knapp bemessen sein. Und das ist bei jeder Pizza von Luigi der Fall! »Garantiert 33 cm Durchmesser!« steht groß an der Tür von seinem Laden. Stimmt! Ich habe nachgemessen. Wie die Pizza dann heißt, ist mir egal.

Ich finde zur Meinungsfreiheit gehört auch, frei von einer Meinung zu sein. Und hat nicht jeder das Recht, dass ihm auch mal was egal ist? Egalität — dafür haben in der Französischen Revolution Menschen ihr Leben gegeben! Heute hat ja jeder zu allem eine Meinung, aber weil jedes Gehirn von jedem naturgemäß damit überfordert ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, schauen die Leute immer, was denn die anderen, zu denen sie gern gehören wollen, für eine Meinung haben. Deshalb weiß KI auch, welchen Musikgeschmack man hat, wenn man ihr sagt, welche Schuhe man trägt. Ich mach da nicht mit! Offenbar provoziert das Menschen wie Gesine Stabroth. Aber ich weiß auch, dass — ganz gleich, was ich sage — es immer nur falsch sein kann: Margharita: Sparfuchs! — Vegetaria: Nachmacher! — Funghi: Langweiler! — Büffelmozzarella mit...: Schnösel!

Weil mir nichts anderes einfällt sage ich: »Tonno mit Extrakäse«, ich finde das cool retro. Gesine Stabroth schüttelt den Kopf. Ich höre noch ein hämisches »Lecker, lecker... und noch eine Fanta dazu für den Kleinen?« Dann ist Gesine Stabroth durch die Tür. Als sie wiederkommt, klappe ich den Pizzakarton auf. Es riecht modern nach irgendeinem Gewürz, das vor fünf Jahren noch keiner ins Essen getan hätte. Ich sage vorsichtig: »Äh, ich hatte doch Tonno mit Extrakäse — was ist das? Ich finde sie ist auch etwas verkohlt...« Gesine Stabroth schnuppert, überlegt und sagt dann bloß: »Oh, komisch... Na ja, irgendeine Pizza halt. Ist doch egal. Meine Vegetaria ist jedenfalls super lecker.« Ein Gentleman fragt die Dame aber nicht, ob er ein Stück abhaben kann. Ich hab dann Chips gegessen zum Bier.

Die angekohlte Pizza heißt übrigens »Urban Style«, da tut Luigi neuerdings Asche drauf, und sie kostet 12,00 Euro — genau die Zahl der Atommasse von Kohlenstoff! Das ist doch kein Zufall, denke ich, während ich die Pizza in den Kühlschrank stelle. Kann man auch anderntags noch kalt essen, wenn man mag.