Sturz ins Unglück: Wieso weshalb warum? @ Les Films Pelleas

Anatomie eines Falls

Justine Triets Wahrheitssuche, die nicht vor Gericht endet, wurde in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet

Abgeschieden in einem französischen Dorf leben die gebürtige Deutsche Sandra, ihr Partner ­Samuel, ihr Sohn Daniel und ihr Hund. Eines Tages wird der Vater vom Sohn tot im Schnee aufgefunden. Ob er gestürzt ist oder sich umbrachte oder ob ihn die Mutter getötet hat? Das muss geklärt werden. »Wenn wir nicht verstehen, was passiert ist, sollten wir versuchen, zu verstehen, wieso es passiert ist.« Diesen Satz sagt der sehbeeinträchtigte Daniel, als er am Ende der wochenlangen Gerichts­verhandlung über den möglichen Mord seiner Mutter an seinem Vater aussagt. Er fasst damit den Film zusammen und entblößt die gerichtliche Wahrheitssuche als fehlgeleitet.

Es gibt nicht nur eine Wahrheit, und doch reden sich alle den Mund fusselig, um diese zu finden. Das ist zum Verzweifeln, denn auf der anderen Seite bleiben Dialoge und Monologe die einzige Möglichkeit, das eigene Leben zu beherrschen. Das gilt vor Gericht wie im Leben. Aus dieser Ambivalenz filtert sich ein Filmerlebnis, das ­einen auch auf die eigene Wahrnehmung von Sympathie, Verständnis, Vertrauen und Misstrauen zurückwirft. In Zeiten, in denen öffentlich vieles in richtig oder falsch eingeteilt wird, ist das wertvoll.

Der Blick, der für dieses Gerichtsdrama in Cannes mit der »Goldenen ­Palme« ausgezeichneten Filme­macherin Justine Triet, wendet sich wiederholt dem Jungen zu, der aus dem Zuschauerstand unangenehmste Details aus dem ­Leben seiner Eltern hören muss. Daniel droht von der fragwürdigen Arbeit der französischen Justiz traumatisiert zu werden. Da gibt es die mediale Ausschlachtung des Falls, weil seine Mutter eine bekannte Schriftstellerin ist. Dann gibt es die Fragen des Staatsanwalts, die suggestiv nach vereinfachenden Wahrheiten bohren. Weites die Beweisstücke, die den mit zerschlagenem Schädel im Schnee aufgefunden Vater pene­trant ins Gedächtnis des Jungen rufen. Und schließlich die Erzählungen der Mutter über die belastete Beziehung sowie auftauchende Ton-Dokumente von gewaltvollen Streit­ereien des Paares. Das Trauma aber trifft in diesem von seinem Drehbuch lebenden Film weniger die Menschen als die Sprache, die sie gebrauchen.

Der Film hinterfragt mit jedem gesprochenen Wort die angebliche Evidenz der Bilder

Dass Justine Triet hier eine Bezie­hungs­dynamik mittels eines klassischen Gerichtsfilms beleuch­tet, ist ein kluger Schachzug, denn so werden die Figuren gezwungen, dass zur Sprache zu bringen, was sonst im Unterbewusstsein einer Beziehung abläuft. Getragen wird der Film von Sandra Hüller in der Rolle der angeklagten Frau. Ihr bewegendes Changieren zwischen Verlorenheit und Souveränität zeugt von einem großen Verständ­nis für den lebensnotwendigen Irrglauben, die Kontrolle über das eigene Leben behalten zu können. Dass Sandra und Samuel beide schreiben, also mit Sprache arbeiten, ist kein Zufall. Der Film hinterfragt mit jedem gesprochenen Wort die angebliche Evidenz der Bilder und mit jedem Bild werden die Worte als falsch entlarvt.

Es geht Triet darum, zu zeigen, dass verschiedene Wahrheiten ständig nebeneinanderher laufen, sich kreuzen, wieder verlieren und finden. Die Regisseurin fragt nach dem Platz für die eigene Wahrheit in einer Beziehung. Das gleiche lässt sich vor Gericht erkunden. Die sämtliche Technologien und Wissenschaften bemühenden Beweisstücke spielen sich gegeneinander aus, nutzen sich in ihrer Vielstimmigkeit ab. Ein Beweis ist kein Beweis; man kennt das von Fußballspielen, bei denen auch Videobeweise in Frage gestellt werden können. Es ist so, wie Daniel sagt: Man müsste anderswo hinsehen, um etwas herauszufinden. Zum Beispiel auf die Gesten oder in die Augen der Protagonisten. Leider verwirft das Drehbuch diesen Ansatz teils im emotiona­lisierenden letzten Akt.

Spannender sind da die sehnsuchtsvollen Blicke, die der Anwalt Vincent, eine alte Bekanntschaft, seiner Klientin Sandra zuwirft. In ihnen steckt mehr Wahr­heit als in den Worten. Ob sie eigentlich schuldig ist, sagt er, spiele keine Rolle. Das allein zeigt die Absurdität seiner Arbeit, aber auch die unumstößliche Bedeutung des Unausgesprochenen. Letzteres ist auch das, was ­einen nach »Anatomie eines Falls« beschäftigt: In dem, was nicht ausgesprochen wird, bewegen sich die Wahrheit und mit ihr der Film nämlich fortwährend und verändern sich unablässig.  Patrick Holzapfel

Anatomie eines Falls

(Anatomie d’une chute) F 2023, R: Justine Triet
D: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner
152 Min., Start: 2.11.