Erleichterung im Kirchenasyl: Hatice und Karwaan mit ihrer Tochter vor der Thomaskirche im Agnesviertel

In biblischer Tradition

Nie gab es so viele Anfragen nach Kirchen­asyl wie heute. In den Gemeinden ist zu spüren, wie scharf die Debatte um Migration und Asyl derzeit geführt wird. In Nettetal wurde im ­Sommer gar ein Kirchenasyl geräumt. Doch viele Kirchengemeinden sagen auch: Jetzt erst recht! Besuch bei einem Kirchenasyl in Köln

Hatice und Karwaan zeigen ihre Wohnung. Sie ist für fünf Personen zwar ziemlich eng, hat aber einen kleinen Garten, in dem an diesem Morgen die Sonne scheint. Zwischen ihren Beinen stolpert die kleine Tochter herum, die vor Kurzem laufen gelernt hat, die beiden älteren Kinder sind gerade in der Schule. Sie seien alle sehr erleichtert, sagt Hatice. Vor zwei Wochen kam die Nachricht, dass sie ins reguläre Asylverfahren übernommen werden. Als Kurden aus dem Nordirak mit drei Kindern haben sie gute Aussichten auf Schutz.

Ohne Kirchenasyl sähe ihre Lage wohl deutlich schlechter aus: Die Familie sollte nach Litauen abge­schoben werden, wo sie zuerst in die EU eingereist war. Der Schlepper habe sie dort ausgesetzt und behauptet, sie seien in Deutschland, so Hatice. Damit sind sie ein sogenannter Dublin-Fall, so wie die allermeisten Kirchenasyle. Die Kirchen gewähren Schutz, um zu verhindern, dass Menschen in bestimmte EU-Ersteinreisestaaten abgeschoben werden, da ihnen dort Misshandlung oder haftähnliche Bedingungen drohen. Nach sechs bis 18 Monaten läuft die sogenannte Überstellungsfrist aus und die Geflüchteten können in Deutschland Asyl beantragen.

Im Jahr 2014 nahm die evangelische Thomaskirche im Agnesviertel erstmals einen Geflüchteten aus dem Iran ins Kirchenasyl. Das sei eher eine spontane Aktion gewesen, über die er nicht lange nachgedacht habe, sagt Pfarrer Christoph Rollbühler. »Eigentlich hatte ich nur nicht die Nerven, Nein zu sagen.« Doch die Erfahrung mit dem ersten Geflüchteten beeindruckten den Pfarrer und seine Gemeinde so sehr, dass sie beschlossen, das Kirchen­asyl zur dauer­haften Einrichtung zu machen. Anfangs ­kamen ­Geflüchtete noch in Gruppenräumen der Kirche unter, später in der ehemaligen Küsterwohnung.

Bundesweit befinden sich nach Angaben des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche derzeit 655 Menschen im Kirchenasyl, in Köln sind es 42. Neben der Thomas­kirche und der Kartäuserkirche in der Südstadt bieten auch Gemeinden in Bilderstöckchen, Worringen und Klettenberg seit vielen Jahren Kirchenasyl. Auch ­einige katholische Gemeinden engagieren sich. Etwa zwei Drittel der Kirchenasyle in NRW entfallen auf die evangelische Kirche, ein Drittel auf die katholische.

Doch die Kirchenasyle bewegen sich in einer recht­lichen Grauzone. Seit 2015 gibt es zwar eine Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration (BAMF) und ­Kirchen. Jeder Fall von Kirchenasyl muss seither dem BAMF gemeldet und ein individuelles Härtefalldossier eingereicht werden. »Das wird aber in rund 99 Prozent der Fälle abgelehnt«, sagt Tom Brandt vom Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW. Die Gemeinden müssen das Kirchenasyl dann laut Vereinbarung beenden — was sie aber in der Regel nicht tun. »Die Fronten sind verhärtet«, so Brandt. Ab dem Zeitpunkt der Ablehnung ist die jeweilige Ausländerbehörde zuständig. Von einigen sei bekannt, dass sie es dem Kirchenasyl so schwer wie möglich ­machen. In Nettetal verschaffte sich die zuständige Viersener Behörde im Juli gar Zugang zu den Räumen der dortigen Gemeinde und nahm ein Paar aus dem Irak in Haft, um es nach Polen abzuschieben — ein außergewöhn­licher Vorgang. Am Ende pfiff die Viersener Bürgermeisterin die Ausländerbehörde zurück, das Paar befindet sich nun im regulären Asylverfahren.

Ein Erlass der vorherigen, schwarz-gelben Landes­regierung, das Kirchenasyl zu respektieren, war kurz vor dem Viersener Vorfall ausgelaufen. Das grün geführte Fluchtministerium teilte mit, man werde »zeitnah« den Erlass erneuern und den Dialog mit Kirchen und BAMF suchen.

Das ist die sinnvollste Arbeit, die wir als Kirche gerade tun
Christoph Rollbühler, Pfarrer Thomaskirche

Das Ökumenische Netzwerk Kirchenasyl in NRW hat Büroräume neben der Kartäuserkirche in der Südstadt. Nie hatte der Verein so viele Anfragen wie heute: Etwa 120 seien es pro Woche, so Tom Brandt. Fast allen müssen sie absagen. Ihre Offene Sprechstunde mussten sie schon vor einem Jahr abbrechen, weil der Andrang nicht mehr zu bewältigen war, ein Mitarbeiter erkrankte schwer vor lauter Stress. Gleichzeitig erleben Brandt und seine Kollegen, wie sich der Wind um sie herum dreht. Das EU-Asylrecht soll verschärft werden, und Forderungen nach Ober­grenzen und leichteren Abschiebungen werden auch in Deutschland immer lauter.

Dieser Trend beeindruckt auch manche Kirchengemeinde. »Da kommt häufiger mal die Frage im Presbyterium: Warum ist die Abschiebung in den Dublin-Staat nicht zumutbar?«, so Tom Brandt. Er und seine Kollegen aus dem Netzwerk berichten dann aus den Anhörungsprotokollen der Geflüchteten. Darin ist von gefängnisähnlichen Camps die Rede, in denen es manchmal tagelang kein Essen gibt, von Misshandlungen, und dass Verletzungen nicht behandelt würden. »Diese Berichte gibt es aus Bulgarien, Litauen, Rumänien, Kroatien — und das sind keine Einzelfälle, das steht in fast allen Protokollen«, so Brandt.

Benedikt Kern vom Institut für Theologie und Politik in Münster sieht das Kirchenasyl auch aus einem anderen Grund unter Druck. »Die Relevanz der Kirchen schwindet, sie haben weniger Räume, Geld und Personal.« Umso wichtiger sei es für die Gemeinden, sich selbstbewusst zum Kirchenasyl zu bekennen, findet Kern. »Sich auf die Seite derjenigen stellen, denen ein gutes Leben verunmöglicht wird, und sie ins Recht setzen — das ist in der bibli­schen Tradition tief verwurzelt.« Das Kirchenasyl sei auch ein Lernort für die Gemeinde: »Gehen wir in den Konflikt und übernehmen Verantwortung — oder genügen wir uns selber?«

Erika Künster hat diese Frage für sich beantwortet. Zusammen mit anderen Helfern aus der Gemeinde der Thomaskirche kümmert sie sich um die kurdische Familie, seit diese vor zwei Jahren ins Kirchenasyl kam. Ein Krankenhaus finden, in dem die Mutter ohne Versicherung ihre Tochter zur Welt bringen kann, Kleidung auftreiben, einen Sprachkurs finden, der Mutter das Fahrradfahren beibringen — um all das hat Erika Künster sich gekümmert. Dass sie sich damit in gewisser Weise dem Staat widersetzt, macht ihr, der Rentnerin, keine Angst. »Viele haben hier keine Vorstellung davon, was diese Menschen hinter sich haben«, sagt sie, die kleine Tochter auf dem Arm. Und Christoph Rollbühler, der Pfarrer, findet: »Das ist die sinnvollste Arbeit, die wir als Kirche gerade tun.«