»Inklusion — sicher, dass Sie ­Ihrem Kind das antun wollen?!«

In Deutschland hat die Inklusion von Menschen mit Behinderung eine hohe Bedeutung — ­zumindest auf dem Papier. Im Leben von Menschen mit körperlichen oder geistigen ­Einschränkungen sieht das anders aus. Im September rügten die Vereinten Nationen die ­Bundesrepublik für ihre Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Besonders schlecht sieht es im Bereich der ­inklusiven Bildung aus. Eva-Maria Thoms setzt sich mit dem ­Kölner Verein Mittendrin seit über zehn Jahren für inklusive Bildung ein — und erklärt, ­warum es in Köln mit dem gemeinsamen Lernen nicht vorangeht

Frau Thoms, der zuständige Fachausschuss hat im September seinen Bericht veröffentlicht, wie Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umsetzt. Die Experten haben Deutschland bei dieser Staatenprüfung eine Rüge ausgesprochen. Sie waren während der Beratungen in einem Protestcamp vor Ort in Genf. Waren Sie überrascht vom schlechten Zeugnis für Deutschland?

Dass Deutschland eine Rüge bekommen würde, war absehbar. Für uns war die wichtige Frage, ob der Fachausschuss das Thema Bildung ausführlich behandelt oder nur am Rande erwähnt. Es gibt ja noch viele  andere Themen, etwa Gewaltschutz, Barrierefreiheit oder den Arbeitsmarkt. Im Ergebnis ist die Nicht-Umsetzung der Inklusion in der Schule zu einem zentralen Thema des Berichts geworden. Der Fachausschuss hat auch zur Kenntnis genommen, dass sogar Menschen nach Genf gekommen sind, um gegen die Verweigerung der inklusiven Bildung in Deutschland zu protestieren. Wir wollten mit dem Camp ein Zeichen setzen, das ist gelungen.

Was folgt aus der Rüge?

Der Fachausschuss hat angemahnt, dass Deutschland den Umbau zu einem inklusiven Schulsystem beschleunigen muss und dafür koordinierte Aktionspläne auf allen Ebenen erstellt werden müssen, hinterlegt mit Zeitplänen, Zuständigkeiten, Ressourcen. Um das durchzusetzen, hat der Fachausschuss keine direkten Sanktionsmittel. Es kommt darauf an, was wir mit den Ergebnissen machen.

Also ein zahnloser Tiger.

Nicht, wenn eine Gesellschaft dadurch das Thema wahrnimmt und diskutiert. Wir sind zwar frustriert über die Situation in Deutschland. Aber wir sind auch ermutigt, weil der Abschlussbericht Deutschland daran erinnert, dass wir uns zur inklusiven Bildung verpflichtet haben. Es gibt Berichterstattung.  So steigt der Druck auf die verantwortlichen Institutionen und Personen. Das ist notwendig. Viele Länderregierungen und die Kultusminister-Konferenz bewegen sich bisher gar nicht, obwohl Deutschland bei der inklusiven Schule — gerade im Vergleich zu anderen Industrieländern — deutlich hinterherhinkt.

Auch bei der letzten Staatenprüfung 2015 wurde Deutschland gerügt. Hat sich für die Kinder die Situation denn verbessert?

Danach haben viele Bundesländer zumindest angefangen, ihre Schulgesetze in Richtung Inklusion anzupassen. Zum Beispiel haben Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt den Sonderschul-Zwang für Kinder mit Behinderung aufgehoben. Aber bessere Schulgesetze helfen nicht, wenn sie nicht umgesetzt werden. In NRW hat sich in den vergangenen acht Jahren nichts verbessert, im Gegenteil. Seit wir keine Landesregierung mehr haben, die Inklusion zum politischen Ziel erklärt, also seit 2017, sacken alle durch und es geht rückwärts. In NRW hatten vor acht Jahren noch mehr Schulen und Lehrer Lust auf eine inklusive Entwicklung. Wenn man heute ein behindertes Kind an einer allgemeinen Schule anmeldet, sieht man wieder häufiger hochgezogene Augenbrauen.

In Deutschland können Eltern selbst entscheiden, ob sie ihr Kind auf einer Regelschule oder einer Förderschule anmelden. Sie sprechen von einem Scheinwahlrecht.

Es gibt vielerorts kein ausreichendes Angebot in angemessener Qualität. Es gibt keine Ermunterung, oft kein Willkommen und keine Unterstützung, wenn etwa Schülertransport, Hilfsmittel, Schulbegleitung beantragt werden muss. Stattdessen kennen alle Eltern von einem behinderten Kind die Frage: »Inklusion — sind Sie sicher, dass Sie Ihrem Kind das antun wollen?!« Eltern brauchen hierzulande eine starke Überzeugung und viel Kraft, um für ihr Kind eine inklusive Bildung durchzusetzen. Mit einer Wahl hat das nichts zu tun.

Was kann man dagegen tun?

Es fehlt schon an Information über das Recht und die Möglichkeiten inklusiver Bildung. In Köln sind zum Beispiel viele geflüchtete Kinder in Förderschulen. Mir kann niemand erzählen, dass die Eltern diese Wahl auf Grundlage vollständiger Information getroffen haben. Dass Lernschwierigkeiten an Kulturschock, Sprachproblemen, individueller Traumatisierung liegen könnten, wird ausgeblendet. Oft erzählen Eltern uns auch, dass ihnen ein sonderpädagogischer Förderbedarf wie eine Art Nachhilfe erklärt wird. Es wird gesagt: »So können wir Ihr Kind besser fördern«. Die Eltern verstehen dann: Es wird mehr dafür getan, dass mein Kind bessere Noten erreicht. Sie verstehen nicht, dass es oft um einen reduzierten Lehrplan geht und dadurch am Ende kein  Schulabschluss erreichbar ist. Lehrer und Eltern reden oft einander vorbei.

Welche Rolle spielen praktische Probleme im Schulalltag?

Bei der allgemeinen Schule bekommt man in der Regel nur einen Schulplatz vorgeschlagen. Die Schulwege sind weit, in der Sekundarstufe muss man oft quer durch die Stadt. Aber während sich eine ganze Stadt darüber aufregt, dass manche Gymnasiasten von Junkersdorf nach Mülheim fahren müssen, ist das für ein behindertes Kind im Regelschulsystem nichts Neues, nur mit dem Unterschied, dass viele Kinder ihren Schulweg nicht selbst bewältigen können. Weil sie in Köln in den meisten Fällen auch keinen Schülertransport bekommen, heißt das für die Eltern: Sie müssen mindestens sechs Jahre fahren — vier Strecken jeden Tag. Das gibt dann oft den Ausschlag, doch auf der Förderschule anzumelden.

Eine ganze Stadt regt sich ­darüber auf, dass manche ­Gymnasiasten von Junkersdorf nach Mülheim fahren müssen. Für ein behindertes Kind im Regelschulsystem ist das nichts Neues

Köln galt lange als Vorreiter in Sachen Inklusion. Schon 2009 hat die Stadt einen Inklusionsplan aufgelegt. Würde auch Köln heute eine Rüge für seine inklusive Bildung bekommen?

In Köln hat man vergleichsweise früh mit inklusiver Bildung angefangen versehen mit politischem Willen. Es wurde ein Expertenbeirat gegründet, der die Stadt bei der Umsetzung von inklusiver Bildung berät. Gekippt ist das spätestens 2017 mit dem Wechsel der Landesregierung zu CDU und FDP. Seitdem hat auch Köln die Entwicklung der inklusiven Schullandschaft schleifen lassen. Wir stehen im NRW-weiten Vergleich zwar immer noch besser da als andere Kommunen, aber besser ist nicht gut. Zudem gibt es eine spezifische Besonderheit…

Welche?

Köln hat eine Schwemme an Diagnosen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, ein Plus von 60 Prozent in zehn Jahren. Der Schnitt in NRW sind plus 30 Prozent, bundesweit sind es plus 20 Prozent. Dafür gibt es keine Erklärung. Die Landesregierung hat jüngst eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Das Verfahren zur Vergabe von sonderpädagogischen Förderbedarfen überschreitet die Grenze zur Willkür.

Was sagt die Schulaufsicht zum steigenden Förderbedarf?

Man hält sich bedeckt, weil es keine plausible Erklärung gibt. Die einen sagen, es könnte an der besseren medizinischen Versorgung von Frühgeborenen und mit einer Behinderung geborenen Kindern liegen. Aber die Zahl der Frühgeborenen, die später schwerbehindert sind, ist viel zu klein, um den Anstieg zu erklären.  

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Wir haben aus unseren Beratungen  den Eindruck, dass immer mehr Schul-Schwierigkeiten durchs Nadelöhr der Sonderpädagogik ­gezogen werden. Früher gab es Schüler mit schlechten Noten. Heute prüft man in solchen Fällen in der zweiten oder dritten Klasse, ob vielleicht ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt. Im Ergebnis sind  in Köln trotz ­Inklusion alle vier Förderschulen Geistige ­Entwicklung knallvoll. Und statt diese Fehlentwicklung zu hinterfragen, will die Stadt zwei zusätzliche Förderschulen bauen.

Welche Rolle spielt der allgemeine Druck aufs Schulsystem?

Der Druck liefert mehr ­Ausreden nach dem Motto: Wir haben doch schon so viel zu tun und sind so schlecht ­ausgestattet, jetzt sollen wir auch noch in­klusives Lernen bewältigen. Aber die Lösung für das Problem, dass Schulen schlecht ausgestattet sind, lautet nicht: Dann müssen die Behinderten weg. Da könnte man ja genauso gut sagen: Dann beschulen wir die Jungs nicht mehr, die sind so anstrengend. Eine Gruppe nicht zu beschulen, ist diskri­minierend.

Der Fokus der Politik liegt derzeit aber auf dem Regelschulsystem.

In der Schulpolitik gibt es starke Kräfte, die keine inklusive ­Bildung wollen. Dahinter liegt auch ein ­größeres kulturelles Problem, dass man in Deutschland Menschen mit Behinderung am liebsten nicht sehen will. Unsere Gesellschaft ist gewöhnt, dass Menschen mit Behinderung am Stadtrand in Wohnheimen, Werkstätten oder Förderschulen sind. Das müssen wir ändern.

Die schwarz-grüne Landesregierung hat einen Aktionsplan Inklusive Bildung angekündigt.

Der steht bisher nur im Koalitionsvertrag. Hier lässt sich Schulministerin Dorothee Feller wirklich auffallend viel Zeit. Zudem steht zu befürchten, dass sie anstelle eines professionellen und wirksamen Aktionsplans mit Zielen, geplanten Maßnahmen, Zuständigkeiten und hinterlegten Finanzen nur einen Kessel Buntes vorlegen wird, also einfach nur zusammenschreibt, was das Schulministerium ­ohnehin schon macht und sich irgendwie unter das Thema Inklusion schieben lässt. Um das zu verhindern, wird es viel politischen Druck brauchen, und da gibt uns die Rüge des UN-Fachausschuss Rückenwind.

Bildungspolitik ist Landessache. Kann die Stadt Köln etwas für eine bessere inklusive Bildung tun?

Das ist in der Schulpolitik ja ein beliebtes Spiel. Man zeigt auf die Landespolitik, und sagt, man könne nichts tun. Das stimmt aber nicht. Der Schulentwicklungsplan der Stadt sieht vor, dass Köln zwei neue ­Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung bauen will. Man könnte sich als Stadt Köln stattdessen fragen: Was kann der Schulträger tun, um das gemeinsame Lernen so zu stärken, dass der Bau dieser Schulen überflüssig wird? Wir haben im Expertenbeirat dafür Maßnahmen ausgearbeitet. Man könnte etwa Eltern und Schüler fragen, ob sie überhaupt auf diesen Schulen sein wollen. Man könnte Eltern im Rahmen eines Case-Managements aktiv zu einer inklusiven Bildung ermutigen, indem man sie informiert und bei allem unterstützt, was das Kind  für die inklusive Bildung braucht.

Vielerorts, wo man auf inklusive Bildung setzt, treten allerdings auch Probleme auf.

Ein Reformprojekt dieser Größenordnung wird ohne Fehlertoleranz nicht gelingen. Man wird ständig evaluieren und Fehlentwicklungen korrigieren müssen. Das ist Regieren, das ist Politik. Alles andere ist nur Rhetorik, und davon haben wir schon zu viel. Inzwischen gibt es ja schon Förderschulen und Wohnheime für Menschen mit Behinderung, die sich selbst für ihre »gelebte Inklusion« feiern. Der Begriff Inklusion wird umgedeutet zu »irgendwas mit Behinderung«. Diese schleichende Umdeutung des Begriffs Inklusion in Deutschland hat der Fachausschuss übrigens auch explizit gerügt.

 

Die UN-Behindertenrechtskonvention
Die UN-BRK wurde 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedet und ist im  Mai 2008 in Kraft getreten. Bislang wurde sie von mehr als 180 Staaten unterzeich­net, in Deutschland gilt sie seit 2009. Ziel ist die Gleich­berechtigung, Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen. Weltweit leben 650 Millionen Menschen, also zehn Prozent der Weltbevölkerung, mit einer Behinderung. Die deutsche Umsetzung der Konvention wurde Ende August durch die Vereinten Nationen in Genf geprüft. Dafür reichte die Bundesregierung einen Staatenbericht ein, auch das Deutsche Institut für Menschenrechte sowie Initiativen reichten parallel Stellungnahmen ein. Die bislang letzte Staatenprüfung für Deutschland fand 2015 statt.