Die fabelhafte Welt der Füsun Onur

Das Museum Ludwig zeigt die erste Retrospektive der Künstlerin außerhalb der Türkei

Lässt es sich mit offenen Augen träumen? Im Museum Ludwig scheint das derzeit mit der großen Ausstellung der türkischen Künstlerin Füsun Onur möglich zu sein. Dabei handelt es sich um die erste Retrospektive außerhalb ihres Heimatlandes.

Einzeln müssen die Besu­cher*in­nen zwischen langen blauen Wollfäden hindurch in eine der Installationen eintreten, können sich auf ein Kissen auf dem Boden niederlegen und den Blick zur ­Decke wenden. Es scheint, als würde das aus Schnüren geformte Himmelszelt jeden Moment auf die Träumenden herabregnen. Doch der Regen ist wie festgefroren und verharrt in unveränderter Position. Nur ein leichter Windzug fährt sanft durch das mit Perlen versehene Gespinst, lässt es glitzern wie schmelzende Eisblumen. »Die dritte Dimension in der Malerei — Tritt ein« lautet der auffordernde Titel der Arbeit, die 1981 in Reaktion auf eine Ausweitung des Kunst­marktes in Istanbul entstand.

Eine Entwicklung, die hauptsächlich der Malerei zugutekam und die, die in Istanbul geborene, Künstlerin mit Raumerfahrung durch Skulptur und Installation konterte. Denn die Skulptur wurde das primäre Ausdrucksmittel für Onur, die an der Staatlichen Kunst­akademie in Istanbul von 1956 bis 1960 Bildhauerei studierte und die anschließend ein Fulbright-Stipendium in die USA führte. Nach ihrem Studium kehrte sie an den Bosporus zurück, prägte seit den 1970ern die türkische Kunstszene und hat bis heute großen Einfluss auf eine jüngere Generation von Künstler*innen. Obwohl sie in ihrer Heimat als eine der wichtigsten zeitgenössischen Positionen gilt, ist ihr Werk bisher noch nicht hinlänglich rezipiert. Außerhalb der Türkei blieb sie allzu oft unbeachtet.

Die Wollfäden sind nicht das einzige Mal, dass sich die Besucher*innen in blauen Traumlandschaften wiederfinden: Blau ist ein zentrales Element im Werk der Künstlerin, die Farbe beschwört das Wasser des Bosporus herauf, der unmittelbar entlang des Hauses ihrer Familie in Kuzguncuk fließt. »Kontrapunkt mit Blumen« von 1982 ist ebenfalls in blaues, hier aquamarines, Licht getaucht. Die Installation erinnert an kind­liche Spielereien, als man leere Schuhkartons mit kleinen Papp­figuren ausstattete und Folie als Deckel auf den Karton klebte. Durch ein Guckloch ließ sich gedanklich in andere Welten wegträumen. Onur überträgt dieses Gefühl in den Museumsraum. Glänzende Papierblumen, mit Steinen beschwerte natürliche Pflanzen lassen Besucher*innen wie tauchend über dem Boden schweben, in einem Paradiesgarten auf dem Meeresgrund spazieren gehen — die Zeit scheint plötzlich still zu stehen. Zwei unterschied­liche Harmonien von natürlich Gewachsenem und künstlich Geschaffenem vereinen sich in dem begehbaren Bild zu melodischen Klängen ohne Ton.

Gleich mehrere Räume durchzieht der aus Sockeln, langen Strick­nadeln, goldenen Schnüren sowie kleinen Porzellanfiguren bestehende Parcours »Opus II — Fantasia« von 2001. Sobald man dem goldenen Faden folgt, entspinnt sich eine stumme Partitur, eine Musik des wandernden Blicks, der von Objekt zu Objekt springt. Onur entwickelt für jeden Ausstellungsort eine spezifische künstlerische Intervention. Häufig bedient sie sich Objekten, die der häuslichen Sphäre entnommen sind, sodass die alltägliche Gegenstände zu Trägern von Erinnerungen und Ankerpunkten kultureller Identität werden. Der Weg in den Raum, die groß angelegten Installationen, die Verwendung von ­Alltagsgegenständen knüpfen an Vorgänger*innen an, verweisen auf Duchamp, Dada, Arte Povera. Oft meint man, Parallelen zu anderen künstlerischen Positionen ausmachen zu können, aber sie lassen sich kaum eindeutig benennen. Onurs post-minimalistisches Oeuvre ist sehr eigen. Die Skulpturen erinnern plötzlich an Meret Oppenheim, die Raumin­stallationen an Yayoi Kusama und die vielfigurigen Erzählungen an ihre Ausstellungs-Vorgängerin im Ludwig, URSULA.

Die Installation erinnert an kindliche Spielereien, als man leere Schuhkartons mit ­kleinen Pappfiguren ausstattete und Folie als Deckel auf den ­Karton klebte

Im »Traum von alten Möbeln« aus dem Jahr 1985 scheint jedes einzelne Möbelstück nachts leben­dig zu werden, als rankten sich alte Geschichten um das brüchige Holz und die zerschlissenen Polster. All diese kleinen Dinge aus Onurs Haus versammelt die Arbeit »Es war ein­mal …«. Für den türkischen Pavillon der Biennale von Venedig 2022 entworfen, erzählen Miniaturmöbel die Geschichte von Kater Zorba und der Maus Cingöz, die sich zwischen ­Istanbul und Venedig zur Rettung einer durch ungebremsten Konsum zerstörten Welt zusammenschließen. Es entspinnt sich ein Märchen über die Schönheit der Welt, welche einer Rettung durch geschulte Wahrnehmung bedarf. Was zunächst losgelöst von der Welt scheint, entpuppt sich als politisch aufgeladen.

Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Arbeiten der Künstlerin, die auch dann noch länger unsicht­bar blieb, als sich der Kunstmarkt in der Türkei bereits während der sieben Jahre währenden Militärjunta (ab 1980) dem Westen gegen­über öffnete. Ein Namensschild findet sich auf der Sitzfläche eines mit Ketten umwickelten Stuhls. Ist es ein Selbstporträt?

In »Raum mit Muse« taucht das leitmotivische Blau wieder auf. Besucher*innen dürfen auf Hockern Platz nehmen, zu ihren Köpfen schwebt eine kleine Figur. Sie lauschen den gedämpften Klängen einer Geige, als würden sie aus dem Zimmer nebenan dringen. Dann wird man fluss­abwärts entgegen der Chronologie der Werke zurück zum Eingang gespült. Erst jetzt vermittelt sich tatsächlich der Rhythmus, der die gesamte Schau durchzieht. Am Ende lässt uns die heute 85-jährige Künstlerin mit dem Gefühl zurück, als hätte die ganze Zeit die Musik nebenan gespielt.

Das Museum tut gut daran, bisher wenig rezipierten Positionen Raum zu geben. Nach gelungenen Ausstellungen von Isamu Noguchi oder URSULA trifft auch Onurs Retrospektive den richtigen Ton. Die Lust am Experiment überträgt sich auf die Besucher*innen, die zu Schaulustigen ihrer eigenen Wahrnehmung werden. Die Ausstellung macht gleichermaßen Spaß und nachdenklich, entführt in die hierzulande künstlerisch bislang wenig präsente Welt am Bosporus. »Treffen wir uns am Orient«, eine anlässlich der Istanbul Biennale 1995 entstandene Arbeit, bestehend aus Ballon, Seide, Schnur und einer Kupferschale, wird zum Signum der Retrospektive. Ist sie doch schwerelos und trotzdem im Boden verwurzelt, spricht eine Einladung aus — ins gedankliche, direkt an der Meeresenge gelegene Haus der Künstlerin. 

Museum Ludwig, Bischofsgartenstraße 1, bis 28.1., Di–So 10–18 Uhr, 1. Donnerstag im Monat: 10–22 Uhr.