Kein Viktorianer, aber unübersehbar Brite: Tom Crewe, Foto: Jon Tonks

Liebe, die ihren Namen sagen will

In Tom Crewes »Das Neue Leben« wollen zwei viktorianische Forscher Homosexualität entmystifizieren

»Wir leben in veränderten Zeiten.« — »Noch nicht verändert genug.« — »Noch nicht. Bis dahin müssen wir in der Zukunft leben, die wir erschaffen wollen.« Henry Ellis und sein Freund und Kollege Ted Carpenter sprechen hier einen zentralen Aspekt von Tom Crewes Debütroman »Das Neue Leben« an: die Zukunft der Sexualität und ­damit verbundener Utopien. Der Roman ist in den 1890er Jahren in London angesiedelt, kurz bevor der Schriftsteller Oscar Wilde wegen »Unzucht« mit männlichen Prostituierten zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde — ein Prozess, der auch in »Das Neue Leben« eine Rolle spielt.

Henry Ellis ist Sexualforscher, verheiratet mit Edith, die wiederum eine Beziehung mit Angelique führt, während Henry sich über seine sexuellen Vorlieben klar zu werden versucht. Zweiter Protagonist ist John Addington, der hinter der Ehe seine Homosexualität zu verstecken versucht. »Er hatte versucht, seine Lust in ihr zu begraben, sie dort anzupflocken und dann fortzugehen. Dazu war er gedrängt worden. Er hatte sie auf Anordnung eines Arztes geheiratet. Und so hatten sie am Ende schließlich drei Mädchen, eine Familie. Doch immer noch war in ihm Sehnsucht, juckendes Begehren.« Mit diesem Begehren wollen sich die beiden Männer in einem Buch über »sexuelle Inversion« auseinandersetzen, das in jene erwähnte Zukunft deuten soll und gegen den Status der Homosexualität als Verbrechen argumentiert: »Eine Studie über die Inversion könnte wissenschaftlich belegen, dass die Sexualität nicht durch den Fortpflanzungstrieb bestimmt wurde — das wäre ein Schritt hin zu dem Beweis, dass Sex ein Trieb war, der zahl­lose Formen annahm, alle innerhalb der Spannbreite der menschlichen Möglichkeiten, alle dem Glück zuträglich.«

Crewe baut die Arbeit der beiden Männer langsam auf, lässt sich Zeit, ihr Leben, den Alltag und verborgene Facetten  vorzustellen und führt so behutsam in das viktorianische England ein. Der Historiker Crewe hat reale Sexualforscher jener Jahre als Vorbilder seiner Protagonisten gewählt, der historische John Addington Symonds starb allerdings bereits 1893. Fiktive und reale Figuren verbindet der Antrieb, eine Zukunft zu entwerfen, in der Regeln und Verbote rund um Sexualität überwunden sein würden: »So ließen sich ganz neue Beziehungsformen postulieren, neue Beziehungen zwischen den Geschlechtern, neue Rollen und Funk­tio­nen. Das wäre eine Grundlage für das Neue Leben.«  Jonas Engelmann

Tom Crewe: »Das Neue Leben«, Insel, 445 Seiten, 26 Euro