Lumpi & Krümel

Materialien zur Meinungsbildung

Haustiere haben sich während der Corona-Seuche stark vermehrt. Ein direkter Zusammenhang mit dem Virus besteht aber nicht. Die Menschen haben sich bloß häu­figer Tiere gekauft — wegen ihrer Kinder, die unter den belastenden Beschränkungen in der Pandemie litten. Dann waren das Virus und die belastenden Beschränkungen weg, aber die Tiere sind noch da. Auch bei Familie Schröder, meinen Nachbarn. Wenn sie in Urlaub fahren, nehmen sie den Hund mit, die Meerschweinchen bleiben daheim. Es ist für alle das Beste.

Die Meerschweinchen heißen Lumpi und Krümel. Das erfuhr ich, als ich den Schröders zusagte, mich um ihre Meerschweinchen zu kümmern. Können Sie auch so schlecht nein sagen?

Es gab eine Unterrichtung, was ich zu tun hätte: Nahrung bereitstellen, Streu wechseln, das ist’s auch schon. Die paar Handgriffe lernt man schnell, sagte Herr Schrö­der. Es war, als klopfe er mir aufmunternd auf die Schulter. Empathie ist für einen Tierpfleger unerlässlich, es braucht aber auch praktisches Geschick.

Lumpi und Krümel leben in einem Gehege. Es sei größer als von Tierschützern empfohlen, sagten die Schröders, ohne dass ich gefragt hätte. Lumpi und ­Krü­mel haben kleine Unterschlupfe, in die sie sich zurück­ziehen können. Rückzugsmöglichkeiten sind wichtig, wenn man zusammen lebt, da unterscheiden sich Mensch und Meerschweinchen nicht.

Ansonsten sind wir aber sehr verschieden, und es fällt schwer, die Perspektive des anderen einzunehmen. Allein wegen der Sprachbarriere. Ich weiß nichts über Krümel und Lumpi, kenne nicht ihre Sehnsüchte, ihre Freuden, ihre Sorgen und was ihnen im Kopf herumspukt den ganzen lieben langen Tag im Gehege. Es ist uns Menschen unmöglich, die Welt als Meerschweinchen zu ­betrachten. Wir stoßen an erkenntnistheoretische Grenzen. Und so ist die Begegnung zwischen Mensch und Meerschweinchen naturgemäß keine auf Augenhöhe. In Südamerika werden sie von Menschen gegessen, das hatte mir einmal jemand erzählt. Daher trat ich Lumpi und Krümel zunächst etwas beklommen gegenüber. Wissen sie doch mehr, als es den Anschein hat?

Ich bereitete zweimal am Tag einen Teller zu. Tomate, Paprika, Gurke, Eisbergsalat. Es war appetitlich, eine moderne Mahlzeit. Ab und an ein bisschen Möhre oder Apfel dazu, mehr Abwechslung brauchen Lumpi und Krümel nicht, es sind Gewohnheitstiere.

Nach einigen Tagen kamen sie aus ihren Häuschen, wenn sie mich bemerkten. Vielleicht war es nur in Erwartung des veganen Tellers, aber vielleicht mochten sie mich auch ein bisschen. Mir jeden­falls sind die beiden schnell ans Herz gewachsen. Ich habe mit ihnen gesprochen, nichts von Belang, aber das ist unter Menschen doch meist nicht anders, und man wird sich doch sympathisch, weil man ahnt, dass hinter den Worten noch mehr ist, ein stilles Einverständnis, ein Vertrauen. Fanden mich Lumpi und Krümel nett?

Dann kamen die Schröders aus dem Urlaub zurück, meine ­Arbeit war beendet. Ich denke, ich habe einen guten Job gemacht. Ob die Schröders mich demnächst wieder fragen? Andernfalls würde ich Lumpi und Krümel wohl nie wiedersehen. Meerschweinchen leben auch nicht lange, trotz veganer Ernährung. Uns bleibt also nicht viel Zeit. Ich denke jetzt oft an die beiden. Ob sie auch manchmal an mich denken?

Die Corona-Infektionen nehmen gerade wieder zu, belastende Beschränkungen soll es zwar nicht mehr geben. Aber vielleicht würden mir Haustiere guttun? Es heißt jedoch, dass Meerschweinchen nachts laut quietschen. Könnte ich das aushalten? Aber wer weiß, was Meerschweinchen am Menschen nicht passt? Man muss die Marotten der anderen ertragen lernen. Toleranz braucht immer auch guten Willen.