Kollektive Erzählinstanz: Kathrin Röggla

»Einschusslöcher des Realen«

Kathrin Röggla erhält für ihren Roman über den NSU-Prozess den Heinrich-Böll-Preis. Wir haben sie auf der Keupstraße getroffen

Hinter den bodentiefen Scheiben des Kuaför Özcan beugt sich ein Friseur über einen älteren Herren und rasiert ihm seine Schläfen aus. Schwarzgraue Haarstoppel, in Bäuschen auf dem Frisierumhang des Kunden gesammelt, gelbes Licht aus Deckenstrahlern. Man sieht den beiden ihre vermutlich türkische Migrationsgeschichte an.

Im Juni 2004 explodierte auf der Keupstraße in Mülheim vor dem Laden von Özcan Yildirim eine Nagelbombe des NSU, die migrantisierte Menschen töten sollte. Damals befand sich das ­Geschäft in einem anderen Haus der Keupstraße, weiter östlich zur Holweider Straße hin, Kuaför Özcan ist umgezogen. Der NSU und Teile seines rechtsextremen Unterstützungs-Netzwerks standen zwischen 2013 und 2018 in München in einem Prozess vor Gericht, über den Kathrin Röggla einen Roman geschrieben hat. Im Sommer ist »Laufendes Verfahren« erschienen.

Auf der Keupstraße ist der Herbst eingezogen, als wir an ­einem hellen Oktobertag zum Spaziergang verabredet sind. Trockenes, braunes Laub raschelt über den Gehweg, Kathrin Röggla hat die Hände tief in die Manteltaschen geschoben, als sie erst von ihrem Umzug an den Eigelstein erzählt und dann von den Recherchen für ihren Roman. In der zweiten Prozesshälfte ist sie ­regelmäßig nach München ge­fahren, saß auf der Empore, hat unzählige Gespräche mit Anwält:innen und ein gewaltiges Lektüre-Pensum hinter sich. Sie hat Prozessmitschriften gelesen und 2017 auf der Documenta die Installation »77sqm_9:26min« des Recherchekollektivs Forensic Architecture gesehen: die Rekonstruktion des NSU-Mords an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel. Dort war während der Tat auch der Verfassungsschützer Andreas Temme anwesend, hat aber angeblich nichts von dem Mord mitbekommen.

Der literarische Einfall von »Laufendes Verfahren« ist eine kollektive Wir-Erzählinstanz, die von der Zuschauer:innen-Empore aus über den NSU-Prozess und seine gesellschaftliche Wahrnehmung berichtet. Einzelne Figuren, oder eher Stimmen — Blogger­klaus, Vornamenyildiz, die Omagegenrechts, der Gerichtsopa und der ­O-Ton-Jurist — sind manchmal das Gegenüber des Wir, und manchmal gehören sie zu auch ihm dazu. »Bin ich jetzt eigentlich ein Teil eurer Gemeinschaft, ja oder nein!«, fragt Vornamenyildiz einmal das Wir.

Erzählt wird im Futur, das dem Wir einen Behauptungsgestus in den Mund legt, der wie der ständige Konjunktiv misstrauisch macht. »Ja, wir werden einen Fuß hineinsetzen wollen in den Ort, an dem jetzt schon von einem Parallelverfahren die Rede ist, hier oben auf den Rängen, das bereits durch die Medien laufe und verurteilt hätte, wo doch erst zu urteilen sei, wie die Verteidiger nicht müde werden im Lauf des Prozesses zu betonen, und zwar durch ein rechtsstaatliches Verfahren, dem gewisse Grund­sätze und Prinzipen zugrunde liegen.« Einerseits die Neutralität rechtsstaatlicher Institutionen, was immer das heißen mag angesichts rassistischen Behörden­versagens, das sich bis in den ­Gerichtssaal fortsetzt, andererseits die notwendige politische Positionierung. Um diesen sehr schmalen Grat geht es.

Seit 2020 ist Kathrin Röggla Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln, und ich habe lange überlegt, wie man seine eigene Professorin interviewt und einen Text über sie schreibt. Distanz betonen, oder nicht? Ich bin zu dem Schluss gekommen, man sollte nicht zu viel darüber nachdenken.

»Wie schwierig war das, diesen schmalen Grat auszuhalten, die Ambivalenzen?« »Das war die ständige Aufgabe, ja. Balance halten, die Figuren in Streit verwickeln, es sollte ja nicht pädagogisch werden. Die einzige Message ist, wenn man das so sagen will, dass es Zeug:innenschaft braucht, Sichtbarkeit, Beobachtung, Vernetzung.«

Informieren über rechtsterroristische Anschläge, den NSU-Prozess chronologisch nacherzählen, das will »Laufendes Verfahren« ­gerade nicht. Diesen fehlenden ­Informationsservice und das Figurenpersonal, das nicht realistisch-psychologisch erzählt wird, hat nahezu die gesamte Literaturkritik diesem Roman angelastet, hat ihn teils zerrissen.

Was bedeutet die Neu­tralität rechtsstaatlicher Verfahren angesichts eines rassistischen Behördenversagens?

»Ein Teil der Kritiken«, sagt Kathrin Röggla, während die Hecktüren eines Lieferwagens vor uns zuknallen, »war schon verletzend, das habe ich so noch nicht erlebt. Andererseits kamen dann der Böll-Preis und die Longlist-Nominierung zum Buchpreis.« Am 1. Dezember verleiht Oberbürgermeisterin Henriette Reker ­Röggla den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln.

Bei Hasret Pastanesi bestellen wir Çai und Kekse, die Keupstraßensonne wirft Lichtflächen durch die Fenster auf die Fliesen vor dem Tresen. Keupstraßensonne, heißt es einmal im Roman, als das Wir eine Tätermutter zitiert, die im Prozess sagt: »Die erleben dieselbe Sonne wie wir«.

Die typisierten Figuren, erzählt Kathrin Röggla, das sei natürlich gewollt, um Zuschreibungen zu zeigen, die Willkür der Erzählinstanz, die aus Yildiz eine Vor­namenyildiz, Grundsatzyildiz, ­Aktenyildiz, Antifayildiz macht. Die Figurenzeichnung ist eine weitere Strategie, davon zu erzählen, wie eine Gesellschaft und ihre Medien rechten Terror und den NSU-Prozess diskursiv verhandeln. Beobachtung zweiter Ordnung. Geichzeitig wahrt »Laufendes Verfahren« Distanz zu einem heiklen Stoff, indem sich der Text als Text zu erkennen gibt.

»Und wer das Wir ist, das könnte ich gar nicht in einem Satz sagen. Es ist das Wir der Zuschauer:innen auf der Empore, es ist aber auch das Wir, in dessen Namen Gerichtsurteile gesprochen werden, im Namen des Volkes, es ist die Frage, die sich in diesem Prozess stellt.« »Handelt das Wir dem Roman nicht aber auch das Problem ein, dass er am Ende doch wieder vor allem um die Mehrheitsgesellschaft kreist? Ohne Opferperspektiven aufzugreifen?«

»Ehrlich gesagt, das ist der schlimmste Vorwurf, den man dem Buch machen kann. Opferperspektiven in so einem Roman, das finde ich degoutant, die hatten im Prozess und in der Urteilsschrift keinen Raum. Und Mehrheitsgesellschaft? Es gibt ja Yildiz, es gibt den Gerichtsopa, der Ostdeutscher ist, Bloggerklaus, der aus prekären sozialen Verhältnissen stammt und migrantisch ist, es gibt die Frau aus der türkischen Botschaft.«

Als wir aufbrechen zur KVB-Haltestelle Keupstraße, laufen wir neben der Backsteinmauer, die an der Ecke Schanzenstraße das Gelände einfasst, das die Stadt Köln nach jahrelangem Tauziehen einem Investor abgekauft hat.

Das Denkmal für die Kölner NSU-Opfer soll dort entstehen, rund 20 Jahre nach dem Nagelbombenanschlag. Das Sprechen über rechten Terror, auch das literarische, das Erinnern, aber auch die Widerstände des Erinnerns — sie bleiben laufende Verfahren.

Kathrin Röggla: »Laufendes Verfahren«, S.Fischer, 208 Seiten, 24 Euro