Wo leben und warum: Der schönste Platz ist nicht immer an der Theke, © Prokino

Wie wilde Tiere

Regisseur Rodrigo Sorogoyen spitzt in einer Art zeitgemäßen Western gesellschaftliche Gegensätze zu

Wenn der Titel dieses Films suggeriert, seine Figuren verhielten sich »Wie wilde Tiere«, ist das mehrdeutiger, als es scheint. Der galicische Originaltitel »As bestas« bezieht sich auf die jährlichen Rapas das bestas, bei denen Wildpferde vorübergehend gefangen und geschoren werden. Gemäß einem altertümlichen Brauch ringen Männer die Tiere mit bloßen Händen nieder,  wie die Anfangsszene kurz vor Augen führt. Dieses archaische Kräftemessen von Mensch und Tier, das hier in Zeitlupe zwiespältige Schönheit annimmt, bietet wiederum das Vorbild für das folgende zwischenmenschliche Gerangel, in dem der Konflikt, der die Filmhandlung bestimmt, schließlich in offene Gewalt umschlägt.

Der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen stellt seinem Spielfilm außerdem eine Texttafel voran, wonach die vorübergehende Bändigung der Pferde zum Schutze ihrer Freiheit erfolge. Ähnlich widersprüchlich ist denn auch die Bezugnahme der zentralen Figuren auf Primitivität und Fortschritt.

Protagonist Antoine war Lehrer und ist weitgereist. Dabei wachte der Franzose nach eigenen Angaben einst volltrunken am galicischen Handlungsort auf und schwor sich, später zurückzukommen: »Dann bin ich frei.« Wenn er und seine Ehefrau nun erstmals bei der Feldarbeit zu sehen sind, der sie seit zwei Jahren in der hügeligen Landschaft nachgehen, kriechen sie freilich auf allen Vieren durchs Gemüsebeet. Freundlichen Spott kontert der Bio-Bauer zwar damit, dass seine Anbaumethode die »Wissenschaft vom Erdreich« spiegele. Dass die bäuerliche Existenz einer Zivilisationsflucht entspricht, ist aber nicht zuletzt daraus zu schließen, dass Antoine mit der Weigerung, seine Scholle wieder zu verkaufen, die Errichtung eines Windparks sabotiert.

Der Film spiegelt Mythen von Pro­vinzialität, Naturnähe und Modernität

Sein Nachbar Xan will das Energieprojekt dagegen unbedingt realisiert sehen, weil er sich vom Verkauf seines Lands den Umzug mitsamt verwitweter Mutter und geistig behindertem Bruder in die nächste Stadt verspricht. Die Aussicht, stattdessen den Rest seines Lebens im Trott einer armseligen Viehzucht zu verbringen, macht den vor Ort geborenen Mann so wütend auf Antoine, dass er sich im zunehmenden Suff zu derben Drohgebärden hinreißen lässt. Wie einzelne Sätze andeuten, scheint Xan damit freilich jenes Vorurteil über hinterwäldlerische Barbarei erfüllen zu wollen, das er dem Kosmopoliten Antoine wie unterstellt.

So spiegelt der Film zweischneidige Mythen von Provinzialität, Naturnähe und Modernität, während er ein reales Drama fiktionalisiert, das sich in einem galicischen Bergdorf zwischen Alteingesessenen und einem niederländischen Paar zugetragen hat, dessen weiblichem Part die abschließend eingeblendete Widmung gilt. Konsequent, dass das Drehbuch von Sorogoyen und Isabel Peña jenes historische Genre zitiert, das auf der Reflexion besagter Mythen aufbaute: An Western erinnern nicht nur die Pferdebändiger, sondern auch gelegentliches Gefuchtel mit einem Gewehr und Streit am Tresen. ­Ihnen folgt zwar kein Duell. Aber ein gut zehnminütiger Dialog zwischen Antoine und Xan reicht als Höhepunkt des Konflikts, der sich aus eingestreuten Alltagsbeobachtungen allmählich herausgegeschält hat. Das mäandernde Gespräch erreicht trotz aller Widersprüche der keineswegs druckreif sprechenden Streithähne eine Nuanciertheit, die im öffentlichen Diskurs über gesellschaftliche Gegensätze höchst selten ist — und die durch die statischen, ungeschnittenen Einstellungen noch unterstrichen wird.

Nach einem Zeitsprung von etwa einem Jahr rückt schließlich Olga ins Zentrum des Geschehens und animiert Álex de Pablos zunehmend mobile Kamera dazu, sich ihr an die Fersen zu heften. Dann bildet eine ähnlich lange, ungeschnittene Einstellung eines Streits mit der zu Besuch weilenden Tochter einen spiegelbild­lichen zweiten Höhepunkt. So kommen noch einmal andere Dinge zur Sprache — wobei nicht zuletzt die Thematisierung des Geschlechterverhältnisses dem etwa­igen Missverständnis vorbeugen sollte, aus der Verschiebung der Erzählperspektive allzu eindeutige Schlüsse abzuleiten. 

(As bestas) E/F 2022
R: Rodrigo, Sorogoyen, D: Denis Ménochet, Marina Foïs, Luis Zahera,
137 Min., Start: 7.12.