Identität ist nicht fixiert

Der Videokünstler Isaac Julien zeigt im Düsseldorfer K21 sein subversives Vokabular

Frederick Douglass steht in Schottland an einem Rednerpult. Vor ihm ein weißes, gebildetes Publikum. Es ist gekommen, um dem US-amerikanischen Abolitionisten, der 1838 der Sklaverei entkommen ist, zuzuhören. Denn Douglass ist ein Weltstar — spätestens seit seinem 1845 erschienenen Buch »Mein Leben als Sklave«. An diesem Tag redet er aber zuerst über eine damals neue Technologie — die Fotografie: »Menschen jeglicher Lebenslage können sich nun so sehen, wie sie von anderen gesehen werden. Was einst der exklusive Luxus der Reichen und Großen war, ist nun für alle erreichbar.« Die Rede ist als »Lecture on Pictures« in die Geschichte eingegangen.

Auf zehn Bildschirmen zeigt der britische Videokünstler und Filmemacher Isaac Julien (*1960) seine Multichannel-Installation »Lessons of the Hour«, die von Frederick Douglass und seiner Ehefrau Anna Murray Douglass handelt. Sie nimmt den zentralen Raum in »What Freedom Means To Me« ein, der ersten Isaac-Julien-Retrospektive, die zunächst in der Londoner Tate Britain gezeigt wurde, bevor sie nun im K21 in Düsseldorf gelandet ist.

In »Lessons of the Hour« von 2019 zeigt sich viel von dem, was Juliens Werk ausmacht. Der Spielfilm zeigt Douglass und seine Familie als Musterbild der Neuzeit und ihrer technologischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts: Anna Murray wird mit einer Nähmaschine in Szene gesetzt, Frederick nimmt für die Reise durch Schottland den Zug — damals das fortschrittlichste Fortbewegungsmittel der Welt. Gleichzeitig sind Douglass und sein Körper Symbole der Kehrseiten derselben Neuzeit: Sein Rücken ist durch die Peitschenhiebe der Sklavenhalter vernarbt. Julien bedient sich gleich mehrfach der Parallelmontage, um Kontinuitäten bis in die Gegenwart aufzuzeigen. Während Douglass anhebt, um den Amerikanischen Unabhängigkeitstag zu denunzieren, sieht man auf einem anderen der Bildschirme Überwachungsvideos einer Black-Lives-Matter-Demonstration in Baltimore, die von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben wird.

Isaac Julien wurde 1960 im Londoner East End geboren, wohin seine Eltern aus dem karibischen St. Lucia migriert waren. Der Rassismus im Nachkriegsengland bildet eine Konstante seines Lebens und wird Sujet seiner Arbeiten. In »Territories« korrespondieren Bilder aus überwiegend migrantisch-geprägten Londoner Stadtvierteln mit Audio-Auszügen antirassistischer Texte. Wie der Soziologe Paul Gilroy, den man hier neben anderen hört, begreift Julien Sklaverei, Kolonialismus und Diaspora als die zentrale Schwarze Erfahrung der Neuzeit, die sich jedoch nicht durch die Rückkehr zu einem imaginären präkolonialen Zustand heilen lässt. Identität ist in Juliens Arbeiten nicht fixiert oder gar  über­zeitlich, sondern ein Verhältnis — zur polit-ökonomischen Gegenwart und Geschichte, aber auch zum fragmentarischen Archiv aus Ideen, Bildern, Klängen und literarischen Texten.

Dieses Archiv nimmt eine ­zentrale Rolle in seinem Werk ein. 1989 wurde Julien mit dem Kurzfilm »Looking for Langston« einem größeren Publikum bekannt. Gedreht auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise, stellt der Film die Geschichte der Emanzipationsbewegung Harlem Renaissance und ihrer Mitglieder, wie dem schwulen Dichter Langston Hughes, in den Mittelpunkt. Es ist eine Existenzbehauptung gegenüber der Kulturgeschichte und Juliens eigener Community. Die Harlem Renaissance der 1930er Jahre ist in »Looking for Langston« ein Geflecht queeren Begehrens, das in den Jazz-Clubs seinen Ort findet. Dort wird Paartanz und Voguing praktiziert, es begegnen sich die Blicke. Zwischen den kontrastreichen, Schwarz-Weiß-Bildern zitiert ­Julien immer wieder Langston Hughes’ Zeile über den dream ­deferred, den aufgeschobenen, amerikanischen Traum. Im Jahr 1989 ist es der Traum des Überlebens trotz AIDS, von dem damals nicht klar war, ob er jemals in Erfüllung gehen könnte. In den letzten Momenten seines Films lässt Julien einen Engel auf die Szenerie herabblicken, auf der Soundspur wird Todd Terrys House-Track »Can you party« lauter und ein Schlägertrupp aus Skinheads stürmt die Treppe hoch.

Julien bedient sich gleich mehrfach der Parallelmontage, um Kontinuitäten der Sklaverei bis in die Gegenwart aufzuzeigen

2022 hat Julien die Geschichte der Harlem Renaissance in seiner Installation »Once Again… (Statues never die)« erneut aufgegriffen. Das Publikum wandert zwischen den sieben Bildschirmen der Installation umher, wie die Schwarzen Protagonist:innen, die sich in Museen in Großbritannien Statuen anschauen, die während der Kolonialzeit dorthin gebracht wurden. Vor diesem Hintergrund inszeniert Julien ein fiktionales Gespräch zwischen dem Kunstkritiker der Harlem Renaissance Alain Locke und dem weißen Kunstsammler Albert C. Barnes, der sich auf Kunst aus Afrika spezialisiert hat. Barnes exotisiert diese Kunst als »belebenden Einfluss« für die europäische Kunsttradition. Dagegen spricht ihr Locke einen inhärenten Wert zu, den er mit den modernistischen Experimenten der Harlem Renaissance zusammenbringen möchte — die »künstlerische Freiheit im diasporischen Traumland«, wie Lockes Charakter in der Installation sagt. Durch die Gegenüberstellung von Museen und kunsttheoretischer Abhandlung fragt Julien, wie die Kunstgeschichte die Existenz kolonialer Raubkunst legitimiert hat — und welche Potenziale dadurch verschütt gegangen sind.

In den vielen Stunden, die ein Besuch von »What Freedom Means To Me« in Anspruch nimmt, fällt auf, wie wenig konfrontativ Julien diese Fragen inszeniert und sie gerade dadurch umso schwerer wiegen lässt. Nach dem Betrachten der oftmals betörend schönen Bilder von Juliens Filmen bleiben Fragen zurück — und keine Antworten. Dies wird besonders bei der Dreikanal-Installation »Ten Thousand Waves« deutlich. Er greift hier den Tod von 23 chinesischen Migrant:innen auf, die 2004 an der nordenglischen Küste gestorben sind. Dort wurden sie während der Muschelernte von der Flut erfasst. Julien kontrastiert die Funksprüche der Küstenwache mit dem Mythos von Mazu, der ­daoistischen Göttin der Seefahrt. Nach dem Tod der Arbeiter:innen schwebt sie über Feldern auf dem chinesischen Land, den mehrspurigen Ausfallstraßen chinesischer Großstädte und durch die Kulisse einer chinesischen Stadt zur Zeit der Kulturrevolution — und findet keinen Ort, wo die Seelen der Arbeitsmigrant:innen zur Ruhe kommen könnten.

Julien inszeniert diese Suche mit einem Brecht’schen Verfremdungseffekt: Komparsen rollen Kameras und Scheinwerfer durchs Bild, Mazus Schauspielerin schwebt vor einem Green Screen. Von den Göttern ist keine Hilfe zu erwarten — im diasporischen Traumland von Isaac Juliens Filmen liegt darin das Versprechen von Freiheit.

Kunstsammlung NRW K21, Ständehausstraße 1, Düsseldorf bis 14.1.2024; Di–So 11–18 Uhr, geschlossen am 24.12., 25.12., 31.12.